Kapitel 13 - Wir schaffen das

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Die Zeit scheint still zu stehen, als der Junge geradewegs in den Speer hineinrennt. Er hängt für einen Moment bewegungsunfähig in der Luft und alles um mich herum erstarrt zu Eis. Sedas Mund steht vor Angst und Erstaunen offen und dann gibt es ein widerliches Geräusch, das mich wieder ins Hier und Jetzt befördert. Das Geräusch, als der Junge auf den spitzen Speer fällt und sich regelrecht daran aufspießt. Sein Mund steht ebenso wie Sedas offen, in einem stillen und verzerrten Schmerzensschrei.
Blut tropft aus seinem Mund hinunter in Sedas Gesicht, die den Speer immer noch umklammert hält und dem Tod ins Gesicht blickt. Der Junge erschlafft schließlich um dem Speer, der aus seinem Rücken wieder herausragt und die Kanone verkündet seinen Tod.
Dann lässt Seda den Speer los und er fällt zusammen mit ihrem ersten Todesopfer zu Boden.
Ich habe keine Zeit zu ihr zu gehen, denn plötzlich wird Atlas heftig gegen die Wand neben mir geschleudert, wo er atemlos und taumelnd stehen bleibt. Als Orin sich ihm nähert, ertönt ein wütender Schrei und Victoria's Hellebarde schlägt mit der Breitseite gegen seine beiden Kniekehlen.
Mit einem markerschütternden Schrei stürzt Orin auf die Knie wie ein gefällter Riese und dreht sich mit wirren Augen zu Victoria um. Blut läuft in Strömen aus seinen beiden Beinen, aus Wunden an denen er früher oder später verbluten würde. Dass weiss er und dies mit der Tatsache verbunden, dass seine zwei Verbündeten tot sind, wird er wahnsinnig. Dem Tod ins Auge sehend, will er noch so viele wie möglich mit ins Grab nehmen. Er kann nicht mehr laufen, deshalb schnappt er sich ein Messer und versucht krabbelnd zu Victoria zu gelangen, die ihn nur hämisch angrinst. Orin schreit auf vor Verzweiflung und wirft einen irren Blick in die Runde. Alecto, die neben Red am Boden kniet und sich die Wunde am Arm hält. Seda, die völlig grün im Gesicht auf den toten Jungen starrt und ich, die bewegungsunfähig das Geschehen beobachtet. Einen hat er vergessen.
Atlas Schwert legt sich an seine Kehle und durchtrennt sie mit einem geübten Schnitt.

Ich stolpere Seda in die kühle Nachtluft hinterher, die draußen ihren Magen entleert und dabei mit zuckenden Schultern weint. Als sie fertig ist und sich zittrig aufrichtet, bin ich an ihrer Seite und lasse sie sich an mir abstützen. Sie sagt kein Wort, als Atlas und Victoria die drei Leichen nach draußen bringen, genauso wie sie es bei Ares gemacht haben. Damit sie abgeholt werden können, um im Kapitol von ihren Wunden befreit  und fast schon unversehrt in einer Kiste nachhause in ihren Distrikt gebracht werden.
Dann lassen sie sich alle erschöpft nieder und Atlas beginnt Alectos Wunde notdürftig mit Orins Shirt zu verbinden. In seiner Jackentasche hat er noch welche von den Tabletten, die auch ich genommen habe und Alecto nimmt sie dankbar entgegen. Damit kann sie wenigstens weiter ihren Arm benutzen, den sie fürs Messer braucht.
Als er fertig ist, unterhält er sich leise mit Victoria, deren Miene erst ist. Sie starrt stur auf ihre Hellebarde, die sie von Orins Blut säubert.
"Hey", flüstere ich vorsichtig und streiche Seda über ihr blondes Haar. Ihre Augen sind leer und ausdruckslos, doch sie schafft es, sie auf mich zu richten. Ich weiss was sie denkt und dann spricht sie es aus.
"Ich habe jemanden getötet,Neva"
Ihre Stimme schwankt vor Furcht und Ekel und ich nehme sie in den Arm. Sogleich umklammert Sie mich wie ein Kind und drückt ihren Körper an mich. Meine Hand hält ihren Kopf und drückt ihn in meine Halsbeuge, damit die Kameras ihr Gesicht nicht sehen können. Sie schafft es nicht zu weinen, doch ich spüre wie angespannt sie ist. "Alles wird gut", flüstere ich in ihr Haar und ich schwöre mir, dass das die Wahrheit ist. Ich muss sie retten.

Ich merke gar nicht, wie alle aufstehen und zum Gehen bereit sind. Erst als Atlas vor mir steht und eine Hand auf Sedas Schulter legt, registriere ich es. Seda zuckt unter seiner Berührung kurz zusammen, bevor sie sich aus meinen Armen windet und schnell aufsteht.
"Wir sollten zurück.", sagt Atlas tonlos, dabei sieht er mich an und legt in seinen Blick eine Frage. Was ist los?
Ich schüttele nur leicht den Kopf und erhebe mich ebenfalls.

Zusammen laufen wir durch die nächtlichen Straßen und bahnen uns den Weg zurück, zu dem Haus in dem wir die anderen zurück gelassen haben. Der Mond erhellt uns den Weg und wir begegnen keinen anderen Tributen mehr. Darüber bin nicht nur ich erleichtert.
Seda hat ihren Speer auf den Rücken geschnallt, das Blut des Jungen, er war aus Distrikt 11, klebt immer noch daran. Ihr Gesichtsausdruck ist gefasst und ernst, alles für die Kameras, denn ich weiss wie sie sich fühlt.
Keinem fällt es leicht, wenn er das erste Mal tötet, nicht einmal einem eingefleischten Karriero. Und das ist Seda nicht. Sie ist lieb, sanft und zurück haltend, passt eher in Distrikt 12 als in 1. Und doch ist sie hier, läuft neben mir und wirft mir hin und wieder ein beruhigendes Lächeln zu,als müsse sie mir beweisen dass es ihr gut geht.
Ich dagegen weiche ihr kein Stück von der Seite, obwohl es mich an die Spitze vor zu Atlas zieht. Vorne, wo ich die Gefahren im Blick habe und schnell handeln kann. Vorne, bei Atlas, der mich mit seinem Blick elektrisiert..
Seda braucht mich und deshalb kann ich nur Victoria's Rücken anfunkeln, die meinen Platz eingenommen hat.
Wir sind ziemlich schnell in der Strasse angelangt, in der das Haus steht und als wir davor angelangt sind, stürzt Alecto vor um die Tür zu öffnen. Doch sie prallt mit voller Wucht dagegen und flucht auf, als sie an dem Türknauf rüttelt.
"Geht nicht auf", faucht sie und schlägt mit ihrer gesunden Hand wütend dagegen.
Victoria stößt sie beiseite und versucht ebenfalls ihr Glück, doch die Tür öffnet sich nicht.
Ich runzele die Stirn und laufe hinüber zu dem einzigen Fenster, an dem die Vorhänge aufgezogen sind. Das Fenster beim Wohnzimmer, wo wir es uns vor ein paar Stunden noch gemütlich gemacht hatten. Es ist leer. Kyra, Quirin und Aury sind nicht zu sehen.
Stattdessen ist das Zimmer bis zur Decke gefüllt mit Wasser.

Die anderen stoßen zu mir, als ich auf ihr Rufen nicht reagiere und stattdessen stumm in den Raum starre.
Ihre Reaktionen bestätigen mir immerhin, dass ich nicht halluziniere.
"Die Spielemacher sind ja ganz gerissen", sagt Atlas trocken und seine Stimme trieft vor Sarkasmus.
"Denkt ihr, sie haben das ganze Haus geflutet?", fragt Seda ängstlich und auch ich komme nicht drum rum, genau das zu befürchten. Ohne Häuser hätten wir keinen Schutz.
"Scheisse!", ruft Victoria aus und schlägt, wie Alecto vorher, mit der Faust gegen die Tür.
Es zeigt Wirkung, aber anders als erhofft.
"Wir sind hier oben!", erklingt eine bekannte Stimme von über uns und wir heben alle die Köpfe. Dort oben grinst uns Aury aus dem Fenster des ersten Stocks an und wedelt mit der Hand.
"Sie haben nur das Erdgeschoss geflutet, wir konnten gerade noch so nach oben fliehen.", sagt sie, nein, eher ruft sie und ich lege vorsichtshalber schon mal einen Pfeil in meinen Bogen ein.
Als Atlas den Finger auf den Mund legt, verzieht sich Aurys Gesicht kurz, dann spricht sie leiser.
" Wart ihr das? Die drei Kanonen? "
" Ja", sagt Victoria nur und das reicht dem blonden Mädchen aus 2. Sie nickt und überlegt kurz.
" Braucht ihr was? "
" Schlafsäcke wären gut, wenn wir schon auf der Straße schlafen müssen", mault Alecto, man sieht ihr an, wie dringend sie ins Haus wollte und ihre Armverletzung verschlechtert ihre Laune.
Es dauert nicht lange und vier Schlafsäcke landen treffsicher in unseren Armen, dazu noch eine Tüte, in die ein Laib Brot eingewickelt ist.
"Bleibt da oben, bis morgen früh und dann treffen wir uns genau hier.", antwortet ihr Atlas und Aury hebt fröhlich den Daumen. Natürlich. Ihnen kann da oben nichts mehr anhaben, vorausgesetzt das Wasser steigt nicht noch weiter. Wir dagegen sitzen hier draußen fest und brauchen einen Unterschlupf.
Wir verabschieden uns von Aury und beschlagnahmen eine Seitengasse für uns. Die Überlegung, in den Wald zu gehen, haben wir wieder verworfen. Zwar wäre der Boden weicher, doch der Weg zu lang und zu riskant. Heute wird niemand mehr sterben.

Nachdem wir das Brot verteilt und gegessen haben, breiten wir die Schlafsäcke aus. Näher aneinander, als mir lieb ist, aber so ist es sicherer und auch wärmer. Seda an meiner einen Seite, kuschelt sich eng an mich und schließt die Augen. Ihre eine Hand verkrampft sich um meine,denn die Erinnerungen an ihren Mord lassen sie immer noch nicht los. Ich lehne an einer Wand und streiche ihr gedankenverloren übers Haar, während mein Blick über Alecto und Victoria schweift, die sich neben Seda legen. Victoria, ganz friedlich, schmiegt sich fast an Alecto und ist schnell eingeschlafen. Da wäre dann noch Atlas. Ehe ich mich versehe, hat er seinen Schlafsack neben mich drapiert und schlüpft hinein. Er übernimmt die erste Wache, danach Alecto und danach Ich.
"Wie geht's Seda?", fragt er leise, dabei kommt er ziemlich nah an mein Ohr und sein Geruch nach Wald, Schweiß, Staub und Atlas steigt mir in die Nase. Ich versuche ihn gedanklich wegzuwedeln und konzentriere mich auf seine Frage.
"Nicht gut", antworte ich wahrheitsgemäß und er nickt langsam, als verstehe er. Aber versteht er es wirklich? Seda muss ein Schwachpunkt in seinen Augen sein, der die Gruppendynamik zerstört. Doch er sieht jetzt fast schon mitfühlend auf meine Freundin hinunter, bevor sein Blick wieder zu meinen Augen hochwandert und dort verharrt.
"Du bist eine gute Freundin.", sagt er leise und ich kann nicht anders, als in seinen Augen zu versinken.
"Ich weiss nicht, ob ich in irgendwas gut bin. Ich bin nicht genug für Seda da und eine schlechte Tochter bin ich auch. Ich habe seit einem Tag nicht mehr an meinen Vater gedacht, dabei könnte er morgen schon tot sein und wir werden auch immer weniger und... "
Und plötzlich sind da Tränen, die sich schon so lange angestaut haben, die immer wieder zurück gedrängt wurden und jetzt endlich nach draußen wollen.
Ich bin in den Hungerspielen, schon wieder. Mit meiner Freundin, meinem Vater und diesem Jungen, der mir den Kopf verdreht, während wir dabei sind, uns gegenseitig abzuschlachten.
Anstatt davon zu weichen, rückt Atlas näher als er meine Tränen sieht und streicht sie sanft mit einer Hand weg.
Dann hebt er sie und umfasst meinen Nacken und ehe ich mich versehe, drückt er meinen Kopf gegen seine Brust. Nicht bestimmend oder grob, sondern sanft.
Einen Moment Spanne ich mich an, doch dann kann ich seinen Duft riechen und sein Herz an meinem Ohr spüren.
"Wir schaffen das", flüstert er und ehe ich mich fragen kann, was er damit meint, bin ich eingeschlafen.

Neva Santos I. - Das 4. Jubel-Jubiläum#Wattys2019Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt