Kapitel 1. - Socken sind keine Rudeltiere

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Mir war schon immer bewusst gewesen, dass ich einen merkwürdigen Geschmack hatte. Damit meinte ich nicht nur meine kulinarischen Experimente (Mettwurst mit Nutella schmeckte wirklich spitze!) oder meinen Kleidungsstil (wer sagte, dass man Streifen und Karos nicht kombinieren konnte?), sondern vor allem die merkwürdige Anziehungskraft von Menschen, die irgendwie...anders waren.

Ich beobachtete das Mädchen mit den roten Haaren jetzt schon eine ganze Weile. Vielleicht lag es daran, dass sie, abgesehen von mir, die einzige war, die sich an diesem gottverlassenen Ufer rumtrieb oder es war der Fakt, dass sie Socken trug. Ja, die meisten Menschen trugen Socken aber die wenigsten trugen sie, wenn sie am Ufer eines Flusses durch den nassen Sand liefen. Außerdem achteten die meisten darauf, dass sich ihre Socken ähnelten. Abgesehen von mir natürlich. Genau in diesem Augenblick trug ich nämlich eine blau gepunktete an meinem linken Fuß und eine grün gestreifte an meinem rechten.

Das Mädchen mit den roten Haaren trug eine pinke und eine gelbe. Sie drehte sich um sich selbst und spritze mit ihrem Fuß (und der gelben Socke) Wasser auf, nur um es dann mit dem anderen Fuß zu wiederholen.

Ich wusste nicht, wann ich aufgehört hatte, auf dem Zeichenblock auf meinem Schoß herumzukritzeln, aber mittlerweile befand sich mehr Sand auf ihm als Graphitstriche. Ich gab es auf, für meinen Kurs in moderner Kunst noch irgendwas aufs Blatt zu bekommen, klappte ihn zu und verstaute Block und Stift in dem kleinen Jutebeutel mit dem Star Wars-Aufdruck, den ich mit mir rumtrug.

Eigentlich war ich gar kein Fan von Star Wars aber es machte mir Spaß merkwürdige Dinge zu sammeln. Und Padmé Amidala, wie sie „Luke, ich bin deine Mutter" sagte, während sie eine pinke Darth Vader Maske trug, war wirklich merkwürdig.

Ich zog die Knie an und legte meine Unterarme auf ihnen ab, während ich das Mädchen weiter beobachtete. Eigentlich sollte ich mich wohl komisch dabei fühlen, jemanden zu beobachten, den ich gar nicht kannte, aber das tat ich nicht. Denn so, wie sie durch die Gegend tanzte, war es ihr vollkommen egal, wer sie beobachtete und wer nicht.

Dass ich sie nicht kannte, überraschte mich allerdings. Denn in Harpers Ferry kannte jeder jeden. Mit etwas mehr als 300 Einwohnern war das auch kein Wunder. Vielleicht war sie nur auf der Durchreise, denn obwohl Harpers Ferry lediglich eine Kleinstadt in West Virginia war, hatte sie sich zu einem kleinen Touristenmagneten entwickelt. Gott allein wusste, warum.

Das Mädchen hatte aufgehört zu tanzen und setzte sich stattdessen auf einen großen Stein, der ein Stück in den Fluss ragte. Ihre besockten Füße baumelten im Wasser. Es war zwar Frühlingsanfang, aber die Temperaturen lagen gerade erst im niedrigen zweistelligen Bereich, sodass ich mir vorstellen konnte, dass ihr gerade die Füße abfroren. Aber entweder, sie legte keinen großen Wert auf ihre Füße oder es störte sie tatsächlich nicht.

Da sie mir nun, da sie auf dem Stein saß, sehr viel näher war als vorher, konnte ich sie besser erkennen. Ich sah, dass ihre Haare nicht rot waren, sondern viel mehr kupferfarben. Und hier und da leuchteten honigfarbene Strähnen dazwischen auf. Ihr Gesicht konnte ich nur von der Seite sehen. Kleine Pausbäckchen lugten unter ihren Haaren hervor und ich sah volle, rosafarbene Lippen. Ihre Kleidung bestand aus einer dicken Strickjacke, die aus verschiedenen Farben bestand und mich irgendwie an die 80er Jahre erinnerte und einer zerlöcherten Jeans. Ob die Löcher gewollt oder einfach durch die Zeit entstanden waren, konnte ich nicht sagen.

Was ich allerdings sagen konnte war, dass dieses Mädchen mit den kupferfarbenen Haaren, der altbackenen Strickjacke und den verschiedenfarbigen Socken, eine ungeahnte Faszination auf mich ausübte. Ich musste sie einfach kennenlernen.

Also stand ich auf, griff nach meinem Beutel und schlenderte auf sie zu. Meine Schritte knirschten auf dem Kies und Sand, sodass ich mir sicher war, dass sich mich hörte. Ich blieb etwas seitlich neben ihr stehen und räusperte mich.

Der Tag, an dem die Sonne einschlief Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt