Kapitel 5. - Wenn alle Dämme brechen

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„Ich bin zuhause", rief ich als ich meinen Rucksack abnahm und ihn in die Ecke warf, um mir die Jacke auszuziehen.

Dann trat ich mir die Schuhe von den Füßen und ging ins Wohnzimmer. Auf dem Weg dorthin stieg ich über einen Wäscheberg und eine zerbrochene Vase. Vertrocknete Blumen lagen in einer Pfütze abgestandenen Wassers und ich seufzte. Mom hatte wieder einen ihrer schwierigen Tage.

Das Wohnzimmer lag im Halbdunkel und in der Luft lag der Geruch von Zigarettenrauch. Wann hatte sie wieder angefangen zu rauchen? Ich durchquerte das Zimmer, ließ die Rollläden hoch und öffnete ein Fenster, um frische Luft hineinzulassen. Dann wappnete ich mich innerlich auf das Gespräch, das gleich folgen würde, sobald ich die Küche betreten würde. Etwas in mir sträubte sich als ich langsam zur Küche ging, die an unser kleines Wohnzimmer anschloss. Ich hatte heute eindeutig nicht die Kraft dafür, mir wieder ihre Probleme anzuhören. Aber ich war ihr Sohn also gehörte das wahrscheinlich dazu.

Meine Mom saß am Küchentisch, blickte auf als ich in die Küche kam und ich sah sofort, dass sie geweint hatte. Die Stellen um ihren Mund waren blass und fleckig und ihre Augen waren rot gerändert. Sie sah furchtbar aus. Seit Dad uns vor fünf Monaten für unsere Nachbarin drei Häuser weiter verlassen hatte, sah sie jeden Tag so aus. Mal mehr, mal weniger schlimm.

„Hallo Mom", sagte ich leise und ließ mich auf den Stuhl ihr gegenüber fallen.

Sie betrachtete mich und ich sah, wie ihre Unterlippe anfing zu zittern und sich Tränen in ihren Augen sammelten.

„Oh Olli, ich hab' ihn heute gesehen!", weinte sie los und schlug sich die Hände vor das Gesicht.

Mir fiel auf, dass sie wieder ihren Ehering trug. Dabei hatte sie ihn bereits am Tag ihrer Trennung abgenommen und seitdem in einer kleinen Schachtel hinter dem Mülleimer verwahrt. Warum sie ihn ausgerechnet heute wieder rausgekramt hatte, wusste ich nicht. Ich wusste auch nicht, warum es sie so verstörte, wenn sie Dad sah. Er wohnte drei Häuser weiter und Harpers Ferry war so groß wie eine Sardinenbüchse. Also sagte ich nichts, sondern setzte lediglich ein bestürztes Gesicht auf und nickte mitfühlend.

„Er hat ihr Blumen gekauft. Meine Lieblingsblumen, kannst du dir das vorstellen?"

Mittlerweile wurde ihr Körper von Schluchzern geschüttelt und ich musste zugeben, dass Menschen wirklich merkwürdig aussahen, wenn sie von ihren Gefühlen überwältigt wurden. So als würde etwas unter ihrer Haut lauern, bereit hervorzubrechen aber von der Haut in Schach gehalten. Man fing an zu zittern, die Augen wurden wässrig und rot, die Augenlider schwollen an und die Haut wurde fleckig. So oder so ähnlich stellte ich mir einen Werwolf kurz vor der Verwandlung vor.

Ich merkte, dass ich mal wieder gedanklich abgedriftet war als meine Mutter die Hände vom Gesicht nahm und mich eindringlich ansah, da sie auf eine Antwort von mir wartete.

„Hast du deswegen die Vase im Flur zerbrochen?", fragte ich, auch wenn das vermutlich nicht die einfühlsamste Antwort war, die ich hätte geben können. Aber wenn sie jetzt schon anfing, unser Mobiliar zu zerstören, musste ich das wissen, um meine Sachen in Sicherheit zu bringen.

„Es war nicht mit Absicht. Ich habe gerade die Wäsche abgehangen, da kam Julian...da kam dein Vater an unserem Haus vorbei und er hielt einen großen Blumenstrauß in der Hand. Es waren Gerbera, Olli! Gerbera! Und er hat auch noch die Frechheit besessen, mich anzulächeln und zu grüßen. Ich bin ins Haus gestürmt, den Arm voller Wäsche und als ich dann die Vase sah, mit den vertrockneten Blumen darin...", erklärte sie und ich seufzte.

„...da hast du sie runtergeworfen. Mit Absicht", beendete ich ihren Satz und sie warf mir einen bösen Blick zu.

„Werd' jetzt bloß nicht frech, Oliver Cunningham! Das kann ich in meiner Situation wirklich nicht gebrauchen", sagte sie streng, dann fing sie wieder an zu weinen.

Der Tag, an dem die Sonne einschlief Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt