Kapitel 8. - Der Wirbelsturm in mir

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Kurz vor dem Klingeln zur Pause verließ ich den Raum, um genug Vorsprung zu haben, um unbemerkt in mein Geheimversteck schlüpfen zu können. Mit gesenktem Kopf hastete ich den Flur entlang, die kleine Treppe nach unten und auf den Schulhof. Ich umrundete das Gebäude und wollte schon auf den Busch zuhalten, unter dem ich mich täglich verkroch als mir Liva Philomena auffiel.

Sie saß auf einer der Tischplatten, die noch nie zum Tischtennis spielen benutzt wurden und ließ die Beine baumeln. Es war ein sonniger Tag, sodass ihre Haare das Licht reflektierten und aussahen wie ein einziges Flammenmeer. Mein Blick schoss zwischen ihr und meinem Geheimversteck hin und her und ich befürchtete, dass ich ihr niemals wieder unter die Augen treten könnte, wenn sie mir dabei zusehen würde, wie ich mich unter einem Busch versteckte. Somit ging ich langsam auf sie zu und ließ mich neben sie auf die Tischtennisplatte sinken.

Liva Philomena sah auf und ihre Augen weiteten sich.

„Oliver, was ist passiert?", fragte sie entsetzt und wie von selbst hob sich ihre Hand und bewegte sich zu meinem Gesicht. Ihre Finger schwebten nur wenige Millimeter über meiner Haut, dann strich sie federleicht über die malträtierte Stelle.

Ich zuckte zusammen und zog reflexartig meinen Kopf zurück, sodass Liva Philomenas Hand hinabfiel. Ihre Berührung hatte mich schockiert. Sobald ihre Finger meine Haut gestreift hatten, hatte mich ein Stromstoß durchfahren und die Stelle hatte gekribbelt als würden tausende Ameisen darunter lauern. Mein Körper kannte es nicht mehr, liebevoll berührt zu werden, sodass ich nichts dagegen tun konnte, wenn er automatisch in den Abwehrmechanismus schaltete.

„Entschuldige", murmelte ich und sah ihr für den Bruchteil einer Sekunde in die Augen.

„Schon in Ordnung, ich hätte etwas sagen sollen, bevor ich dich berührt habe", gab sie zurück und dieses Gespräch war mir plötzlich ziemlich unangenehm.

Normalerweise hätte sie nichts sagen müssen. Solche Berührungen waren normal. Aber ich war Oliver Cunningham und an mir war nichts normal. Ich zuckte zusammen, wenn man mich anfasste, weil ich verdammt noch mal nur Gewalt von meinen Mitschülern kannte. Auch meine Mom hatte mich seit Jahren nicht mehr berührt. Keine Umarmung, kein aufrichtiges Hand-auf-die-Schulter-legen. Aber das war schon in Ordnung. So war meine Mom nun mal.

Ich erwiderte darauf nichts und realisierte mit Grauen, dass sich der Schulhof langsam füllte. Ich kämpfte gegen den Fluchtinstinkt an, der langsam aber sicher mein Denken übernahm und krallte mir die Fingernägel in die Handfläche, um mich abzulenken.

„Du hast mir nicht geantwortet", sagte Liva Philomena dann und drehte sich zu mir, sodass sie im Schneidersitz saß und mich direkt ansah.

„Worauf?", wollte ich wissen und sie zeigte auf ihr eigenes Auge. Ach so.

„Ich habe mich geprügelt", antwortete ich leise, weil ich darauf wirklich nicht stolz war. Normalerweise sollte ich das wohl sein, aber ich war es nicht.

Liva Philomena zog grübelnd die Augenbrauen zusammen, dann lächelte sie leicht.

„Gut gemacht."

Fragend legte ich den Kopf schief.

„Warum sagst du das? Prügeleien sind dumm."

Sie nickte.

„Stimmt. Aber ich bin trotzdem stolz auf dich. Du hast dich verteidigt."

Ich wollte ihr sagen, dass ich nicht mich verteidigt hatte, sondern sie, aber das war mir peinlich. Ich wollte nicht, dass sie dachte, dass ich einer dieser Jungen war, die sich um ein Mädchen prügelten. Denn das war ich nicht. Eigentlich. Um ehrlich zu sein, hatte ich mich ja auch nicht um ein Mädchen geprügelt, sondern für.

Der Tag, an dem die Sonne einschlief Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt