Kapitel 6. - Von Abenteuern und Nahtoderlebnissen

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Am nächsten Morgen stand ich schon viel zu früh vor der Tür. Der morgendliche Tau hing noch an den Blättern der Bäume und Büsche und die kalte Luft schnitt mir beim Einatmen in die Lunge. Die ersten Vögel trällerten bereits ihre Lieder aber so leise, dass man meinen könnte, sie wüssten, dass ihnen noch nicht genug Menschen zuhörten, weil sie noch tief und fest schliefen. Ich ließ den Blick über die gepflasterte Straße schweifen, die zum Fluss führte und über der ein leichter Nebel hing. Manchmal, wenn ich morgens zu früh aufwachte, weil ich einen Albtraum hatte, setzte ich mich auf meine Fensterbank und malte mir aus, was für Geschöpfe im Nebel lauerten. Ich bildete mir ein, lange Klauen und wabernde Gestalten zu sehen. Heute lauerten keine Gestalten auf mich. Ganz im Gegenteil. Irgendwo hinter dem Nebel war Liva Philomena. Ob sie schon wach war?

Ich hatte die Nacht schlecht geschlafen. Dies lag nicht nur daran, dass mich Mom mit ihrem Schluchzen stundenlang wachgehalten hatte, sondern daran, dass ich mir immerzu zu viele Gedanken machte, sobald ich zu viel Zeit hatte, in der ich mich nicht mit irgendwas ablenkte. Und wenn man nachts wach lag und durch die Dunkelheit an die Decke starrte, hatte man eindeutig zu viel Zeit. Ich hatte an alles gedacht, was nicht gut für mein Seelenheil war. Zum Beispiel, dass mich Liva Philomena eines Tages so sehen würde, wie die anderen. Dass sie einfach anfing, mich zu hassen. Der Gedanke hatte meinen Hals zuschnüren lassen und mein Herz hatte so stark gepocht, dass es mir körperliche Schmerzen bereitet hatte.

Ich wusste, dass ich mich albern benahm, dass ich keinen Anspruch auf ihre Loyalität hatte. Ich kannte sie kaum. Sie kannte mich kaum. Alles konnte sich plötzlich ändern, wenn wir mehr Zeit miteinander verbringen würden. Dabei wusste ich nicht mal, ob wir mehr Zeit miteinander verbringen würden. Natürlich hatte ich die Hoffnung, aber ich war mittlerweile alt genug und hatte genug Erfahrung gesammelt, um zu wissen, dass Hoffnung einen retten und zerstören konnte. Je nachdem, wie das Endergebnis war.

Ich seufzte und begann, langsam auf und ab zu gehen. Ein kühler Windstoß blies mir ins Gesicht und meine Augen begannen zu tränen. Aber das war mir egal. Ich konnte nicht stillstehen. Etwas tief in mir war unruhig und musste sich jetzt unbedingt bewegen.

Ich wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war als ich plötzlich den Motor eines Autos hörte und stehen blieb. Zwei hell erleuchtete Scheinwerfer schnitten durch den Nebel und kurz darauf blieb ein alter Chevrolet ruckartig vor mir stehen. Der Motor röhrte und klapperte und ich beugte mich vor, um durch die Fensterscheibe zu sehen. Liva Philomena saß am Steuer und grinste breit, dann winkte sie mich hinein. Ich öffnete die Tür, nahm gleichzeitig meinen Rucksack ab und ließ mich in den Sitz fallen. Meinen Rucksack schmiss ich auf die Rückbank, dann sah ich Liva Philomena an.

„Guten Morgen", grüßte ich sie und sie nickte mir zu.

„Guten Morgen, Oliver", antwortete sie, dann grinste sie mich erneut breit an.

„Bereit für ein Abenteuer?", wollte sie wissen und ich legte den Kopf schief.

„Ich dachte, wir fahren zu Schule?"

Sie nickte. „Tun wir auch."

„Was meinst du dann?"

„Ach, du wirst schon sehen", gab sie zurück, dann legte sie mit etwas Schwierigkeit den ersten Gang ein und gab Gas.

Sofort wurde mir bewusst, warum sie von einem Abenteuer gesprochen hatte.

Der Wagen ruckte und stockte, beschleunigte auf einmal, sodass ich mich am Türgriff festklammerte und kam schließlich wieder mit einer Vollbremsung zum Stehen als wir abbiegen mussten. Mit großen Augen warf ich Liva Philomena einen skeptischen Blick zu und sah, dass sie angestrengt die Zunge zwischen die Zähne geklemmt hatte. Auf ihrer Stirn, direkt zwischen den Augen hatte sich gleichzeitig ein tiefes V gebildet. Sie sah drei Mal nach links und rechts, bevor sie erneut Gas gab und uns schlingernd um die Kurve beförderte, sodass ich unsanft hin- und hergeworfen wurde. Plötzlich erstarb der Motor. Sie hatte ihn mitten auf der Hauptstraße abgewürgt. Ein Blick in den Rückspiegel zeigte mir den herannahenden Verkehr.

Der Tag, an dem die Sonne einschlief Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt