Kapitel 9. - Superman und Sockenmädchen

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Anscheinend hatte es sich rumgesprochen, was zwischen dem Piranha und mir vorgefallen war. Wann und wo immer ich die Gänge entlang ging, um den Klassenraum zu wechseln, blieben die anderen Schüler stehen, starrten zu mir und fingen an zu tuscheln. Ich wusste nicht, was ich von so viel Aufmerksamkeit halten sollte. Eigentlich wollte ich nicht beachtet werden, wollte unsichtbar durch die Gänge huschen, den Kopf gesenkt. Ich wollte nicht, dass man mich erkannte, wollte der Junge ohne Gesicht sein, von dem alle wussten, dass er existierte aber keiner wusste, wer er war.

Jetzt kannte man mich. Innerhalb weniger Stunden wussten alle, dass ich Oliver Cunningham war, der Junge der Bryce die Nase gebrochen hatte. Die vielen Blicke waren mir unangenehm. Ich fühlte mich beobachtet, so als würden sie nur darauf warten, dass ich erneut ausrastete und einem vorbeigehenden Schüler die Faust ins Gesicht rammte. Natürlich tat ich das nicht und ich würde es auch nicht noch einmal tun. Aber woher sollten sie das wissen? Ich konnte mich ja schlecht mitten in den Flur stellen und brüllen, dass sie mich gefälligst nicht mehr beachten sollten, dass sie sich mir gegenüber genauso verhalten sollten wie immer. Nur ohne das Schubsen und Lachen und Abwerfen und Mittelfinger zeigen und...okay, sie sollten sich mir gegenüber anders verhalten. Sie sollten mich einfach existieren lassen, mich dulden.

Als der Schultag schließlich endete und ich im Auto auf Liva Philomena wartete, schloss ich für ein paar Sekunden die Augen. Ich ignorierte das Hupen und Gekreische auf dem Parkplatz und erinnerte mich daran, dass ich in diesem Augenblick in meiner eigenen kleinen Blase war. Keine Blicke, kein Getuschel, keine Aufmerksamkeit. Nur Oliver Cunningham hinter dem Steuer eines Autos, das nicht seines war. Ich rollte mit den Schultern, um die Anspannung daraus zu vertreiben und ließ den Hals knacken. Wie es schien, kam mein Körper mit Aufmerksamkeit nicht klar. Eine gerade, aufrechte Körperhaltung war mir genauso fremd wie liebevolle Berührungen. Apropos Berührungen: mein Inneres war noch immer in Aufruhr, so als würden sich viele Teile immer noch nach und nach an ihre Plätze schieben. Ich war unruhig und kribbelig und wusste nicht wohin mit mir. Ich kannte mich selbst nicht mehr.

Als die Beifahrertür aufgerissen wurde, zuckte ich zusammen und öffnete die Augen. Liva Philomena ließ sich seufzend in den Sitz fallen, schnallte sich an und umklammerte dann ihren Rucksack auf ihrem Schoß.

„Was für ein Tag", murmelte sie, wandte dann den Kopf zu mir und grinste mich an.

„Na, wie fühlst du dich, Superman?", fragte sie und ich zuckte die Schultern.

„Merkwürdig", gab ich zu, drehte den Schlüssel im Schloss und manövrierte den Wagen langsam aus der Parklücke.

„Kann ich mir vorstellen. Wie geht es dem Auge?"

„Geht schon." In Wirklichkeit tat es höllisch weh.

Sie trommelte mit ihren Fingernägeln auf die Konsole. Klack. Klack. Klack. Klack. Klack. Klack. Klack. Klack. Klack. Klack. Klack. Klack.

„Liva Philomena, bitte", seufzte ich und sie warf mir einen entschuldigenden Blick zu. Dann drehte sie den Kopf und sah aus dem Fenster.

Kurz darauf fiel mir auf, wie sie ihre Hände zu Fäusten ballte, nur um sie kurz darauf wieder zu öffnen und ihre Finger zu denen. Ihre linke Hand fuhr zu ihrem Hals und massierte eine Stelle unter ihrem Ohr. Sie zuckte zusammen.

„Alles in Ordnung?", fragte ich und sie schaute mich überrascht an.

„Klar, was soll sein?"

Irgendwas an ihrem Gesichtsausdruck war anders, aber ich konnte nicht genau sagen, was es war. Hatte sie heute Morgen auch schon so ausgeprägte Augenringe gehabt? Ich konnte mich nicht erinnern.

„Ach nichts", murmelte ich und warf noch einen prüfenden Blick auf sie, dann schaute ich konzentriert auf die Straße.

Eine Zeit lang herrschte Stille im Auto. Die Landschaft huschte an uns vorbei und vor uns am Himmel türmten sich riesige, bauschige Wolkenberge auf. Einige von ihnen strahlend weiß, andere mausgrau. Ob es Regen geben würde? Dabei war das Wetter am Vormittag so schön gewesen.

Der Tag, an dem die Sonne einschlief Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt