Kapitel 12. - Leere und Zuckerwatte

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Als der Bus an der Haltestelle im Dorf hielt, löste ich den Kopf von der Scheibe, griff nach meinem Rucksack und schlurfte den Gang entlang, der mich zur Tür brachte. Ich nickte dem Fahrer zu, der mich wie jeden Tag ignorierte und ließ mich die Stufe, die aus dem Bus führte beinahe hinunterfallen.

Ich schlurfte den Weg entlang und konnte es nicht vermeiden, alle paar Meter tief zu seufzen. Ich fühlte mich leer. Erschöpft. In meinem Kopf hatte sich Zuckerwatte breit gemacht. Zumindest fühlte es sich so an. Fluffig und klebrig füllte sie die Zwischenräume meines Schädels und umhüllte mein Hirn, sodass ich nicht mal mehr einen richtigen Gedanken fassen konnte. Ab und zu regte sich etwas, doch diese Idee, dieser Funke von etwas wurde von der Zuckerwattewand direkt wieder abgefangen. Es war merkwürdig. Normalerweise standen meine Gedanken nie still. Stattdessen überfluteten sie mich förmlich. Doch heute war alles anders. Heute war da nichts als Leere und Zuckerwatte.

Meine Beine fühlten sich schwer an. So als würden sich anstatt meiner Füße Betonklötze den Weg nach Hause bahnen. Die Erschütterung meiner trägen Schritte vibrierte durch meinen Körper, rüttelte an mir, doch nicht genug, um die Zuckerwatte in meinem Kopf zu vertreiben. Ich hatte den Blick Richtung Boden gerichtet, wollte weder die Bäume, Sträucher oder Lebewesen sehen, die man hin und wieder am Wegesrand entdecken konnte.

Vielleicht hatten meine Augen für heute genug gesehen. Meine Ohren genug gehört. Mein Hirn genug gedacht. Vielleicht hatte ich für heute genug gelebt.

Der Weg zu meinem Haus fühlte sich ewig lang an. So als würde ich zwei Schritt vor machen und einen zurück. Als würde ich auf der Stelle treten. So wie ich es mein ganzes Leben schon tat. Zwei Schritte vor, einen zurück.

Das Handy in meiner Jackentasche schien mir förmlich ein Loch in den Stoff zu brennen. Nicht wirklich, natürlich. Aber seine Präsenz und die gleichzeitige Stille die davon ausging waren schmerzhaft. Sie zeigten mir überdeutlich was mir fehlte. Kontakt. Nicht irgendein Kontakt. Mir fehlte Liva Philomena. Mir fehlte das Sockenmädchen. Mein Sockenmädchen.

Wahrscheinlich benahm ich mich dumm. Nein, nicht nur wahrscheinlich. Ich benahm mich dumm. Ich fühlte mich betrogen, obwohl Liva Philomena mir nichts schuldete. Sie konnte ja nichts dafür, dass ich so war, wie ich war. Dass ich mich, sobald mir jemand auch nur ein klein wenig Aufmerksamkeit schenkte, daran klammerte wie ein Ertrinkender an ein Stück Treibholz.

Dass sich der Rhythmus meines Herzens mit ihrem synchronisiert hatte, so als wäre ihrer der einzig richtige, der mich überleben ließ. Der mich erst richtig leben ließ. Und jetzt, da sie mich anscheinend verstoßen hatte, klopfte mein Herz nur noch holpernd. Als wäre es auf Kopfsteinpflaster unterwegs. Es war unangenehm. Vielleicht hatte mein Herz ein Schleudertrauma.

Als ich endlich mein Haus erreichte, seufzte ich erneut. So als würde dieses Seufzen all die Schwere in mir auflösen, die sich zwischen meinen Knochen, Adern, Venen und Organen breit gemacht hatte. Ich drückte das Gartentor auf, schlurfte zur Tür, drehte den Schlüssel im Schloss, trat ein, ließ die Tür wieder zufallen. Stille. Erbarmungslose Stille klingelte in meinen Ohren. Ich war alleine. Auch zuhause. Da, wo eigentlich Leben sein sollte. Eine Familie. Vater, Mutter, Kind. Heute kein Vater. Heute keine Mutter. Heute nur Kind. Eine Ein-Mann-Familie.

Ich warf meine Jacke zu Boden. Starrte ihr hinterher. Hob sie wieder auf, zog das Handy heraus und hängte sie fein säuberlich an die Garderobe. Meine Ein-Mann-Familie mochte kein Chaos. Zumindest nicht hier.

Ich ging in mein Zimmer. Hier war Chaos erlaubt. Dieses Chaos war bekanntes Chaos. Es spiegelte das in meinem Kopf wider.

Ich warf meinen Rucksack auf einen freien Platz zwischen aufgestapelten Büchern, Zeitungsseiten und Sammelfiguren. Mein Handy legte ich auf den Schreibtisch. Dabei fiel mir auf, dass heute Freitag war. Normalerweise mein Lieblingstag. Heute ein Tag wie jeder andere. Mein Magen knurrte. Wann hatte ich das letzte Mal etwas gegessen? Heute Morgen? Ich schlurfte zurück in die Küche und durchwühlte die Schränke. Ich fand eine alte Packung mit Pop Tarts. Zimtgeschmack. Nicht mein Lieblingsessen aber kochen wollte ich auch nicht. Also ein Kompromiss. Ich war gut im Kompromisse machen.

Ich nahm zwei Tarts heraus, steckte sie in den Toaster und wartete. Mein Blick fiel auf den Zettel von meiner Mutter. Übermorgen wollte sie wiederkommen. Ob sie wohl bereits in besserer Stimmung war? Vielleicht. Mehr wollte mir zu dem Thema nicht einfallen. Die Zuckerwatte in meinem Kopf hinderte mich daran.

Ich zuckte zusammen als die Pop Tarts aus dem Toaster nach oben schossen. Die Küche roch nach Zimt. Ich fischte sie heraus und legte sie auf einen Teller, dann ging ich durchs Wohnzimmer auf die Terrasse. Die Sonne schien. Anscheinend hatten alle bessere Laune als ich.

Die Pop Tarts schmeckten pappig und die Zimtfüllung viel zu süß. Wie lange sie wohl schon im Schrank gelegen hatten? Zwischen dem alten Paprikagewürz und den Bohnen waren sie mir lange nicht aufgefallen. Ich biss ab und kaute. Schluckte runter. Biss ab. Bis beide Tarts in meinem Magen waren. Zumindest war damit erst mal der schlimmste Hunger gestillt. Jetzt musste ich nur noch diese verdammte Zuckerwatte in meinem Kopf loswerden. Wie auch immer ich das anstellen sollte. Seit ich Liva Philomena kannte, schien ich meinen Körper nicht mehr zu kennen. Er machte einfach, was er wollte und ließ sich nicht mehr mit den alten Tricks besänftigen. Ich kannte mich selbst nicht mehr. Und das war ein Problem.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Apr 07, 2021 ⏰

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