Kapitel 3. - Der Wunsch nach einem eingebauten Abwehrmechanismus

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„Du zeichnest wirklich gut", flüsterte Liva Philomena und ich schaute von meinem Zeichenblock auf.

Ich zuckte die Schultern und ließ den Blick über die verschmierten Linien wandern, die mit viel Fantasie einen Fluss darstellten. Mit sehr viel Fantasie. Liva Philomena log, um mir ein Kompliment machen zu können.

„Du musst sowas nicht sagen, weißt du?", flüsterte ich zurück und sie legte den Kopf schief.

„Dass du gut zeichnest? Warum nicht?", wollte sie wissen und ich seufzte.

Ich schaute auf ihre Zeichnung, die sie innerhalb einer halben Stunde angefertigt hatte und die meine um Längen übertraf. Sie hatte sich dazu entschieden eine Ruine zu malen. Und damit meinte ich nicht eine heruntergekommene, hässliche Ruine ohne Leben, sondern eine Ruine, die Hoffnung versprach. Aus dem heruntergekommenen, grauen Fundament sprossen Blumenranken, die sich über die verschobenen und zerbrochenen Steine legten und in bunten Farben leuchteten. Liva Philomena machte aus etwas Hässlichem etwas Schönes.

„Du musst nicht lügen. Ich weiß, dass meine Zeichnung nicht gut ist. Und ich stehe nicht so auf falsche Komplimente", sagte ich und merkte selbst, wie spitz meine Stimme am Ende klang.

Dabei sollte ich mich wohl eigentlich freuen. Sie hatte sich die Mühe gemacht, mir ein Kompliment zu machen. Die meisten anderen hätten sich darüber lustig gemacht. Oder gar nichts gesagt. Liva Philomena schnaubte neben mir und ich sah auf. Sie sah schon wieder wütend aus. Wahrscheinlich würde sie mir gleich sagen, warum. Schon öffnete sie den Mund.

„Und ich stehe nicht drauf, wenn man mich als Lügnerin darstellt. Würde mir deine Zeichnung nicht gefallen, hätte ich einfach den Mund gehalten. Aber ich mag sie. Also habe ich es dir gesagt. Ganz einfach", sagte sie und ich zuckte vor ihrem ernsten Ton zurück.

Anscheinend meinte sie es wirklich ernst. Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte, also ließ ich den Kopf hängen und fuhr mit meinem Kohlestift einen Grashalm nach, der am Rande des Flusses wuchs. Irgendwie sah der Shenandoah Fluss traurig aus. Sofern ein Fluss traurig aussehen konnte. Er floss immerzu in dieselbe Richtung, hatte immerzu dasselbe Ziel, das er immerzu erreichte. Das stellte ich mir langweilig vor, ja geradezu unbefriedigend. Ich stellte mir vor, wie es wäre an einem Ort gefangen zu sein und nur die Möglichkeit zu haben, jeden Tag das Gleiche zu tun. Nicht über sich hinauswachsen zu können, keine neuen Ziele erreichen zu können. Und dann merkte ich, dass ich der Shenandoah Fluss war. Mein Leben war der Fluss, der sich nie veränderte. Dieser Gedanke machte mich traurig. Deswegen war wohl auch der Fluss traurig.

„Oliver, du musst sauberer arbeiten. Die Linien sind ja ganz verwischt", riss mich plötzlich die Stimme von Mrs. Kruger aus den Gedanken und aus Reflex legte ich meinen Unterarm über die Zeichnung.

Ich sah in das faltige Gesicht meiner Lehrerin, die immerzu betonte, dass sie deutsche Vorfahren hatte. Vielleicht war sie deshalb so ernst. Ich nickte und senkte wieder den Kopf. Den Arm nahm ich jedoch nicht wieder von der Zeichnung. Ich wollte nicht, dass sie weitere Dinge fand, die ihr nicht gefielen. Mir gefiel die Zeichnung ja selbst nicht.

„Es reicht nicht, Olivers Zeichnung nur mit einem kurzen Blick zu würdigen. Dann sieht sie chaotisch aus, ja. Aber wenn sie länger hinschauen würden, dann würden sie bemerken, dass sich alles zusammenfügt. Die verwischten Linien ergeben ein Ganzes und drücken ein ganz besonderes Gefühl aus. Finden sie nicht, dass der Fluss dadurch sehr traurig wirkt?", meldete sich plötzlich Liva Philomena zu Wort und Mrs. Kruger schaute überrascht zu ihr rüber.

„Und du bist?", wollte sie wissen und Liva Philomena streckte ihr die Hand entgegen.

„Liva Philomena Dearing, sehr erfreut. Ich bin neu auf der Jefferson High School. Aber ich gedenke nicht, so lange zu bleiben", stellte sie sich vor und die alte Kunstlehrerin hob skeptisch die Augenbrauen.

Der Tag, an dem die Sonne einschlief Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt