Kapitel 10. - Zu früh gefreut

47 4 0
                                    

Meine innere Uhr sorgte dafür, dass ich schon vor dem Weckerklingeln auf den Beinen war.  Oder vielleicht war es auch nicht meine innere Uhr, sondern lediglich die Vorfreude darauf, Liva Philomena wiederzusehen. War das albern? Vielleicht. Schämte ich mich dafür? Nur ein kleines bisschen. Konnte mir das die Vorfreude auf sie vermiesen? Niemals. Als ich mich dabei erwischte, etwas länger als sonst in den Spiegel zu sehen und störrisch abstehende Haarsträhnen mit Wasser niederzukämpfen, musste ich über mich selbst lachen. Ausgelassen streckte ich dem Jungen im Spiegel die Zunge raus.

Es war ein schönes Gefühl etwas zu haben, auf das man sich direkt nach dem Aufstehen freuen konnte. Selbst bei der Wahl meiner Klamotten achtete ich darauf, nicht wie ein exotischer Papagei auszusehen. Auch wenn es mir normalerweise egal war, was andere Leute über mich dachten. Warum es ausgerechnet bei Liva Philomena anders war, die ihre Sachen farblich genauso wild kombinierte wie ich, wusste ich nicht. Es war einfach so.

Ein letzter Blick in den Spiegel zeigte mir, dass ich tatsächlich ganz passabel aussah. Sofern man sich selbst als passabel beschreiben konnte. Da ich viel zu früh dran war, setzte ich mich noch eine Weile in die Küche und genoss die Ruhe, die ich nur kannte, wenn Mom nicht da war. Ich fragte mich, ob sie um diese Uhrzeit noch oder bereits wieder betrunken war. Ich wusste, dass ihre spontanen Kurztrips zu ihren Freundinnen immer in Alkoholexzessen endeten. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass meine Mom 17 war und ich 45.

Tatsächlich hatte ich erst einmal in meinem Leben einen Schluck Alkohol getrunken. Ich war 12 gewesen und meine Eltern hatten in unserem Garten eine kleine Party gegeben. Ich weiß noch, dass ich mich vor meinen Cousinen versteckt hatte, die mir unbedingt die Fingernägel lackieren und Zöpfe flechten wollten. Ja, ich musste zugeben, dass ich zu dieser Zeit wirklich lange Haare hatte, aber ich war 12 und war somit alles andere als erpicht darauf gewesen, mich von meinen jüngeren Cousinen wie eine Barbiepuppe behandeln zu lassen. Zumindest hatte ich unter einem der Tische, unter dem ich mich verkrochen hatte, eine angefangene Bierflasche gefunden. Ich hatte mich rebellisch und cool gefühlt als ich wie selbstverständlich einen großen Schluck daraus genommen hatte. Mit dem Geschmack hatte ich allerdings nicht gerechnet. Es war das Widerlichste gewesen, was ich je in meinem Leben probiert hatte. Bis heute hatte ich nicht versucht, dieses traumatische Erlebnis zu wiederholen.

Aus der Schule wusste ich, dass ich damit alleine war. Tatsächlich war es momentan modern, sich jedes Wochenende bei jemand anderem zuhause die Gehirnzellen wegzusaufen. Vielleicht war dies die Erklärung dafür, dass sich die Schulidioten so benahmen, wie sie sich nun mal benahmen. Sie hatten einfach keine Gehirnzellen mehr übrig. Der Gedanke brachte mich zum Grinsen. Vielleicht sollte ich Liva Philomena später von meiner Theorie berichten. Andererseits: vielleicht tat sie am Wochenende ja genau das gleiche. Wer wusste das schon? Nur, weil sie aus irgendeinem unerfindlichen Grund Zeit mit mir verbrachte und sich meinetwegen fast mit Typen prügelte, die doppelt so groß und schwer waren wie sie, hieß das noch lange nicht, dass sie so langweilig war wie ich. Irgendwie ernüchterte mich dieser Gedanke. Tatsächlich wusste ich fast gar nichts über sie.

Ich wusste lediglich, dass sie gerne unterschiedliche Socken trug und sich für andere einsetzte, die ungerecht behandelt wurden. Sie war frech und liebenswert zugleich. Und sie zeichnete unglaublich gut. Das war's dann auch schon. Ich kannte weder ihre Lieblingsmusik noch wusste ich, was sie gerne in ihrer Freizeit machte. Ich hatte keine Ahnung, warum sie zu ihrer Großmutter gezogen war und woher sie ursprünglich stammte. Und doch, obwohl ich sie so wenig kannte, hatte ich mit ihr einen abenteuerlichen Ausflug in ihrem Auto gemacht, hatte mich gegen den Piranha und seine Speichellecker gewehrt und zum ersten Mal die Handynummer eines Mädchens bekommen.

Keine Ahnung, wer Liva Philomena in Wirklichkeit war, aber für mich war sie meine eigene persönliche Sonne, der Arschtritt, den ich unbedingt brauchte, um für mich selbst einzustehen und der Schutzengel, von dem ich immer geglaubt hatte, ihn nicht zu besitzen.

Mein Blick fiel auf die Uhr und ich sprang auf. Ich hatte mich schon wieder so sehr in meinen eigenen Gedanken verloren, dass ich die Zeit vergessen hatte. Zum Glück war ich noch nicht zu spät. Ich raste in den Flur, warf mir meine Jacke über und griff nach meinem Rucksack. Dann stürzte ich nach draußen. Als die Tür hinter mir ins Schloss fiel, atmete ich erleichtert auf. Liva Philomena war noch nicht da.

Ich öffnete die kleine Gartenpforte und schlenderte hinaus. Dann lehnte ich mich gespielt lässig dagegen. Das hatte ich in Filmen gesehen: ein Fuß angewinkelt gegen den Zaun gestemmt, die Hände cool in den Jackentaschen. Als mein Fuß allerdings von dem vom Tau feuchten Holz abrutschte, wurde mir bewusst, dass man seine Hände am besten nicht in den Jackentaschen hielt. Ich hatte keine Chance, sie schnell genug rauszuziehen als ich zur Seite kippte und schließlich unsanft auf dem Boden aufschlug. Mir schoss die Hitze in die Wangen als ich mich beeilte, wieder auf die Beine zu kommen und mir den Dreck von der Kleidung zu klopfen. Eilig ließ ich den Blick schweifen, um zu schauen, ob jemand meinen peinlichen Auftritt mitbekommen hatte. Aber nein, ich war der einzige, der sich für mich schämen musste. Ich sollte es einfach lassen, jemand zu sein, der ich nicht war. Ich war weder cool noch lässig und das hatte mir diese Aktion mal wieder bewiesen. Zum Glück hatte Liva Philomena nicht mitbekommen, wie ich mich blamiert hatte. Apropos Liva Philomena – mein Blick fiel auf meine Armbanduhr. Sie war schon zehn Minuten zu spät. Aber so wie ich sie kannte, hatte sie dafür wieder eine gute Erklärung. Zum Beispiel, dass sie das Auto abgewürgt hatte. Fünf Mal hintereinander.

Ich wippte auf der Stelle hin und her und fing an, irgendeine Melodie zu summen, die mir gerade in den Kopf kam. Ob das eine Titelmelodie irgendeines Films war, den ich zuletzt gesehen hatte? Vielleicht. Als mir das auf der Stelle wippen zu langweilig wurde, begann ich auf und ab zu gehen. Dann kickte ich einen Stein vor mir her, bis ich einmal zu stark ausholte und der Stein im nahegelegenen Gebüsch landete. Ich seufzte und schaute erneut auf die Uhr. Schon zwanzig Minuten und immer noch keine Spur von ihr. Ich kramte nach meinem Handy und entschied, ihr eine Nachricht zu schicken.

Guten Morgen, Liva Philomena. Bist du wach? Ich ja. Und ich warte vor der Tür. Auf dich. Ich will dich nicht stressen aaaaber es ist schon ziemlich spät...OC

Als ich die Nachricht abgeschickt hatte, überlegte ich, ob ich sie nicht lieber hätte anrufen sollen. Aber wenn sie schon hinter dem Steuer saß, wäre es gefährlich, wenn sie den Anruf entgegennehmen würde. Nein, eine Nachricht war gut. Ich telefonierte sowieso nicht gerne. Die Minuten vergingen und mir wurde langsam kalt. Es war ein kühler Morgen und die dicken Wolken, die am Himmel hangen versprachen Regen. Noch immer keine Antwort. Und mittlerweile wären wir sogar zu spät, wenn wir rasen würden. Seufzend rief ich sie schließlich doch an. Es klingelte und klingelte und klingelte...

„Hi!", erklang dann endlich ihre Stimme und ich seufzte erleichtert.

„Hi Liva Philomena, hier ist Oliver. Ich wollte fragen...", begann ich, wurde jedoch direkt wieder von ihr unterbrochen.

„Reingefallen. Hier ist natürlich nicht Liva Philomena, weil ich aus Prinzip nicht ans Telefon gehe. Wenn es wichtig ist, versuch es einfach so lange, bis mir mein eigener Klingelton auf die Nerven geht. Das kann aber dauern. Tschüss." Dann piepte es.

Wäre ich nicht langsam wirklich genervt davon, dass sie nicht auftauchte, hätte ich über ihre Mailbox gelacht. Jetzt gerade passte es mir aber gar nicht, dass sie aus Prinzip nicht ans Telefon ging.

„Liva Philomena. Hier ist Oliver. Ich habe keine Ahnung, ob du noch schläfst oder mich vergessen hast, aber ich warte schon seit fast einer halben Stunde auf dich. Und ich bin mir sicher, dass wir zu spät zur Schule kommen. Ich werde also den nächsten Bus nehmen. Sag mir doch Bescheid, ob bei dir alles in Ordnung ist, sobald du diese Nachricht hier hörst", sagte ich und legte auf.

Dann machte ich mich wiederwillig auf den Weg zur Bushaltestelle. Wenn ich Glück hatte, würde ein zweiter Bus kommen, der die Schüler abholte, die die erste Stunde Schulausfall hatten. Wenn nicht, würde ich wohl oder übel zuhause bleiben müssen. Ich ließ mich auf der modrigen Bank nieder und seufzte noch einmal. Warum hatte ich mich noch mal gefreut? Hätte ich mir nicht gleich denken müssen, dass ich einfach nicht so viel Glück hatte? Dass man mich vergaß? Dass man Versprechen machte, die man nicht hielt?

Als weitere zehn Minuten vergingen, leuchteten endlich Scheinwerfer auf. Zu groß, um die von Liva Philomenas Auto zu sein. Als der Bus vor mir hielt, ließ ich den Kopf hängen und stieg ein. Ich grüßte den Fahrer, der mich nicht mal ansah und setzte mich in den leeren Bus. Anscheinend war ich der einzige, den man vergessen hatte.

Der Tag, an dem die Sonne einschlief Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt