Teil 6

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Felicia lag benommen am Fuße des Stamms. Blut rann ihr aus Nase und Augenhöhlen. Ihr ganzer Körper schmerzte, ihre Arme wollten ihr nicht mehr gehorchen. Sie stöhnte auf.

Silae, ich bitte dich..., ihre Augen waren an das Himmelszelt gerichtet, ...gib mir Kraft. Nur noch für diesen einen Kampf.

Die Art des Ritters hatte sich plötzlich geändert. Schneller Schritte ging er auf die hilflose Assassine zu. Am Ausdruck seiner Augen, die aus den Sehschlitzen der Maske hervorstachen, erkannte sie, dass er nun ernst machen würde. Der nächste Schlag seines Schwertes würde sie töten, wenn sie nicht sofort auf die Beine kam.

Doch das Schicksal hatte es anders für Felicia vorgesehen.

Der Ritter, zum finalen Stoß bereit, hielt mitten in der Bewegung ein. Die Klinge hing in der Luft, wie Kinderspielpuppen an einem Faden.

Felicia hatte, den tödlichen Schwerthieb erwartend, die Augen bereits geschlossen, als sie ein Purzeln neben sich vernahm, das sich langsam von ihr entfernte.

Der einzige Apfel des dürren Baumes war doch tatsächlich herabgefallen, und kullerte nun über das Gras dem Rande des Daches entgegen. Als der Ritter dies sah, warf er seine Waffe von sich und spurtete ihm hinterher.

Felicia konnte ihren Augen nicht glauben. War dieser Mann verrückt? Doch dies kümmerte sie in diesem Moment nicht. Sie sah eine Gelegenheit, wie das Blatt doch noch zu wenden war. Während der Ritter in seiner schweren und starren Rüstung unbeholfen den Apfel einzufangen versuchte, wie ein Kleinkind einen Hasen, kehrte das Gefühl in Felicias Gliedern zurück. Sie rappelte sich hoch, packte das Schwert des Ritters und stürmte, all ihre letzten Kräfte mobilisierend, auf den Gegner zu.

Dieser bekam den Apfel endlich zu greifen. Den Angriff der Assassine sah er jedoch nicht kommen.

Das Schwert durchbrach die schwarze Rüstung im Rücken des Ritters, als bestände sie aus weicher Butter, trat an seinem Bauch wieder aus, und nagelte den Ritter an den Boden. Die Spitze des Schwertes warf die schwarze Erde auf, als sie sich tief in den Rasen grub.

Der Mann stöhnte auf, doch seine Hände hielten den Apfel noch immer fest umschlossen. Selbst als Blut unter seiner Maske hervorquoll, machte er keine Anstalten sich zu wehren. Das Wohl des Apfels priorisierte er sogar vor dem eigenen Tod.

Felica zog das Schwert zurück und warf es von sich. Und jetzt..., sie rieß die starren Finger des Ritters auseinander, gib mir endlich meinen Lohn! Der Ritter erwehrte sich ihr nicht und Felicia biss genüsslich in die Frucht.

Nun stand sie da. Starr wie eine Statue. Denn nur ein Schritt, und die schmerzenden Glieder hätten sie in die Knie gezwungen. Der Apfel schien in diesem Moment das Süßeste zu sein, von dem sie je in ihrem Leben gekostet hatte. Tränen mischten sich mit dem Blut das über ihre Wangen rann. Als sich die Morgensonne zwischen den Gipfeln im Osten erhob, genoss sie die Wärme der Sonnenstrahlen die auf ihr Gesicht fielen, wohl wissend, dass dies die Letzten für sie sein würden.

Schritte näherten sich. Dutzende beschlagene Stiefel hurteten über die steinernen Treppen. Die Soldaten würden das beenden, was der Ritter begonnen hatte.

Das war es also..., Felicia bedauerte nichts. Sie hatte ein erfülltes, wenn auch schweres Leben. Vor ihrem geistigen Auge sah sie sich selbst als Kind, damals als die Welt noch klein und friedlich war. Sie sah den Hof auf dem ihre Eltern sie großgezogen hatten, und das Lachen ihrer Mutter, die ihre Tochter so sehr liebte. Sie spürte die rauen Hände ihres Vaters auf ihrer Wange, der Tag ein, Tag aus auf den Feldern des Barons für seine Familie schuftete.

Doch sie sah auch die schwarzen Tage. Den ersten Tag des zwanzigjährigen Krieges, an dem die Nachbarländer ohne jede Vorwarnung ihre Heimat geplündert hatten, und sie zur Vollwaisen machten. Noch am selben Tag wurde sie von der Großmeisterin weinend an einem Waldbach nahe des Hofes gefunden. Sie hatte versprochen, sich um Felicia zu kümmern, für den geringen Preis ihrer Zukunft.

"Ergib dich!", und "Auf die Knie!", riefen die wütenden Stimmen der Soldaten. Felicia bedachte sie keines Blickes, sie wollte jedes bisschen Wärme der Sonnenstrahlen in sich aufnehmen.

Hinter ihr hatten sich sämtliche verbliebene Soldaten der Festung aufgereiht. Über ein dutzend Armbrüste mit geladenen Bolzen zielten auf sie, die Schützen knieten vor zwei Reihen Schwert- und Speerkämpfern. Zähne knirschend, konnten sie die Rache für ihre gefallenen Kameraden kaum erwarten.

Felicia wollte diesen schwächlichen Soldaten keinesfalls die Genugtuung gönnen, sie getötet zu haben. Und so fokussierte sie sich ein letztes Mal, und ging langsam vorwärts. Mehr als ein Torkeln brachte sie nicht zustande, doch ihr Ziel, die Kante des Daches, war nur wenige Schritte entfernt.

Als die Soldaten bemerkten, dass sich die Assassine selbst das Leben nehmen wollte, gerieten sie in Unruhe. "Nagelt sie an den Boden!", lauteten die Befehle des Hauptmanns. Daraufhin feuerten die Schützen ihre Geschosse ab.

12 Bolzen bohrten sich in den Rücken und die Oberschenkel der Assassine. Doch Felicia dachte nicht daran zu Boden zu gehen, ganz im Gegenteil. Der Stoß der Bolzen beflügelte sie, ihr Ziel war nur noch einen Schritt entfernt. Der Schmerz wird bald aufhören.

Die Soldaten stürmten auf sie zu, doch keiner bekam sie mehr zu fassen. Felicia Bluttrinker befand sich bereits im freien Fall vom Dach des turmhohen Hauptgebäudes.

Sie lächelte. Am Ende hat es doch keiner geschafft mich zu besiegen. Seitdem sie eine Assassine geworden war, hatte sie sich gefragt, wer der Gegner sein mochte, der sie schließlich töten würde. Unbesiegt zu sterben war ihr ein Trost, wenn auch ein schwacher.

Die Soldaten standen wortlos am Rande des Daches. Sie alle waren Zeuge davon geworden, wie an einen sonnigen Herbstmorgen, die berüchtigste Assassine des Königreichs Mercia von ihnen ging. Die Blutspur die ihr bis zu diesem Tag folgte, war schier endlos.

Dolch & Rose - Die letzte AssassineWo Geschichten leben. Entdecke jetzt