Auf der Fahrt zum County Gefängnis lasse ich den gestrigen Tag Revue passieren. Um meine Karriere wieder anzukurbeln, werde ich mich bewerben. Als Assistentin bei Paul Hendricks Immobilien. Es ist zwar nicht mein Traumjob, aber ich glaube ganz fest daran, dass ich mich weiterentwickeln kann und irgendwann die Chance habe, meinen eigentlichen Beruf auszuüben. Dad werde ich davon noch nichts erzählen, erst, wenn ich angenommen werde, soviel steht schon mal fest.
Die Sonne steht fast im Zenit als ich das Gefängnis erreiche. Man braucht von Brooklyn gute zwei Stunden bis hierher. Aber das ist immer noch viel näher dran, als meine Heimat in Miami. Diese Art der Anreise für Besuche wäre absolut nicht möglich gewesen.
Ich besuche meinen Dad jeden Samstag, denn das ist in meinem Wochenablauf zum Ritual geworden. Wenn ich nicht von meiner Arbeit berichte, dann von den Boxkämpfen mit Josh oder seinen Liebschaften. Es gibt keine Wörter dafür, die nur ansatzweise beschreiben wie sehr ich meinen Dad vermisse. Seine Nähe, seine Fürsorge, sein offenes Ohr oder einfach überhaupt das Gefühl zu haben, eine Familie zu besitzen. Seitdem meine Mutter uns verlassen hat, ist alles einfach viel schwieriger geworden. Ich hatte keine richtige Familie mehr, nur noch meinen Dad. Aber auch dieser wurde mir genommen. Ich war kaum 16 Jahre alt, als Dad zu einer Gefängnistrafe verurteilt wurde.
Und meine Mom? Ich habe keinen blassen Schimmer wo sie seitdem steckt. Ihre Postkarten kamen nicht mehr an, als ich zu der Pflegefamilie gezogen bin und mein Dad ins Gefängnis kam. Das Haus wurde verkauft und die Spur meiner Familie verläuft im Sande. Ich will das wieder ändern, ich will uns, meinen Dad und mich, wieder dahin bringen wo wir waren. Dafür werde ich mit Leib und Seele kämpfen, das ist mir nun bewusster denn je.Ich steige aus meinem Audi aus, als ich schließlich vor dem Gefängnis einen Parkplatz gefunden habe. Die Vollzugsbeamte kennen mich inzwischen schon und begrüßen mich manchmal sogar mit meinem Vornamen. Das ist irgendwie erschreckend. »Hallo Alexa, heute wieder zu deinem Dad?«, erkundigt sich der heutige Wärter. Ich glaube sein Name war Paul, aber genau weiß ich das nicht mehr. »Mhm. Genau«, murre ich leise. Ich lege in gewohnter Routine mein Handy sowie meine übrigen Habseligkeiten in die Schublade und folge einem zweiten Bediensteten in den Besucherraum. Mein Dad empfängt mich bereits mit einem Strahlen im Gesicht. »Mein Mädchen. Du siehst wunderbar aus. Aber so abgekämpft. Du solltest nicht so viel arbeiten«, sagt er sanft und ich ziehe ihn in eine kurze Umarmung ehe wir uns einander gegenüber auf die Stühle setzen. Ich spüre jedesmal die Blicke der Beamten auf uns. Keine großen Berührungen, kein mitbringen von Gegenständen, es ist nichts erlaubt. Mich macht es so unglaublich wütend, dass sie meinen Dad wie einen Schwerverbrecher behandeln. Er hat niemanden umgebracht, es waren einfach nur verdammte Steuern, für die sich eh kein Mensch interessiert. »Starr die Beamte nicht so an, die haben uns doch nichts getan«, ermahnt mich mein Dad. »Doch. Sie tun so, als wärst du ein Schwerverbrecher«, protestiere ich mit wütendem Blick. »Schätzchen, ich bin ein Verbrecher«
»Hör auf sowas zu sagen«, schnaufe ich wütend. Ich will nicht das er so verständnisvoll reagiert und schon gar nicht, dass er sich als Verbrecher abstempelt. Und das auch noch sich selbst gegenüber. Wo ist denn sein Stolz hin?
»Erzähl mir von dir. Was treibst du so? Geht es Maja gut?«, erkundigt er sich, um geschickt vom Thema abzulenken. Es gelingt ihm, denn natürlich habe ich nicht vor an dem einzigen Besuchstag mit ihm zu streiten. »Maja geht es super. Ich habe neulich einen Kunden zurechtgewiesen. Das fand Maja nicht so witzig«, lache ich. »Ganz meine Tochter! Die Impulsivität hast du von deiner Mom«
Es ist immer noch wie ein Dolch der in das Herz gerammt wird. Ein Schmerz durchfährt mich und prickelt bis in meine Haarwurzeln – Mom. Mom existiert nicht mehr und ich habe kein Interesse daran meine Zeit mit Gedanken an sie zu verschwenden. Dad muss meinen wehleidigen Blick bemerkt haben, denn inzwischen versucht er erneut das Thema zu wechseln. »Mhm... wie geht es Josh? Was macht sein Freund, Cole?«
»Cole ist schon wieder Schnee von gestern«, erkläre ich meinem Dad. Er weiß, dass Josh schwul ist und ganz entgegen meiner Erwartungen hat er bei seinem Outing total gelassen reagiert. Das bewundere ich an meinem Dad. Auf der einen Seite ist er ein so herzlicher Mensch und auf der anderen Seite ist er ebenso gut in der Lage ein fokussierter Geschäftsmann zu sein. »Warum hörst du mit diesen Gelegenheitsjobs nicht auf, Alexa? Du hast genug Geld«, belehrt mich mein Dad weiter. Jedesmal wenn wir uns treffen spricht er das Thema an. Irgendwo kann ich ihn ja verstehen, das Geld schlummert auf dem Konto vor sich hin, aber anderseits habe ich auch keine Lust unser Vermögen zu verprassen. Wir werden es brauchen, wenn wir unsere Firma wieder aufbauen. Da bin ich mir ganz sicher. »Dad ich muss doch etwas tun. Soll ich nur zu Hause rumsitzen?«
»Nein, aber du könntest zum Beispiel etwas studieren. Was dir gefällt? Oder du könntest in einer Immobilienfirma arbeiten. Ich will doch nur nicht, dass du deine Qualitäten so einschlafen lässt«, sagt er und blickt mir dabei die ganze Zeit in die Augen. Sein Blick ist so voller Sorge, dass es mich fast umbringt. Ich muss ihm einfach einen Lichtblick geben. »Ich arbeite da an etwas...«, murmle ich leise.
»Ach, wirklich? Verrätst du es mir?« Sein Blick hat sich deutlich aufgehellt. Fast so als hätte er das Gefühl, dass das Kind doch noch nicht in den Brunnen gefallen sei. »Nein. Erst wenn alles sicher ist. Dann sage ich dir Bescheid«Am Abend erreiche ich das NEOS. Die Bar in der ich nebenbei auch noch kellnere. Ganz im Gegensatz zu dem Coffeeshop ist es hier alles andere als familiär. Meine Chefin ist ein absolutes Arsch, die Belegschaft wechselt ständig und die Gäste sind aufdringlich. Ihr fragt euch sicherlich wieso ich mir das antue, naja vielleicht der Ablenkung halber. Es fasziniert mich was abends in Lower Manhattan so los ist und dann komme ich nicht in Versuchung zu Hause auf einem Samstag Trübsal zu blasen.
»Lexi, der Prosecco ist alle. Kannst du welchen besorgen?«, erkundigt sich die neue Aushilfe, die ebenfalls mit mir an der Bar steht.
»Mhm, klar. Ich laufe fix.« Der Getränkevorrat ist im Keller. Unsere neue Aushilfe hat sicher noch keine Ahnung wie das läuft, weshalb ich mich direkt auf den Weg mache. Mit dem Lastenaufzug, der gefühlte Stunden benötigt, geht es in den Keller. Dann muss man zweimal links abbiegen und noch einen Code eingeben. Kein Wunder, dass Neue daran verzweifeln, denn auch ich habe mich beim ersten Mal dort unten verlaufen.
Als ich schließlich unseren Kellerraum erreiche, hole ich den richtigen Karton hervor und will gerade den Rückweg antreten, als ich ein Geschmatze wahrnehme. Klingt so, als sollte ich mich schnell verdrücken, denn hier wollen zwei definitiv ihre Ruhe haben. Ich schließe unseren Keller und mache mich mit dem Prosecco unter dem Arm auf den Weg zum Aufzug. Blöd nur, dass das Paar am Fahrstuhl lehnt. Ich räuspere mich leise, damit die zwei sich nicht erschrecken und ich mich vorbei an den Knopf schieben kann, um nach dem Aufzug zu verlangen. Doch absolute Fehlanzeige, die beiden bekommen gar nichts mehr mit. Mein Finger quetscht sich zwischen dem Rücken der Dame hindurch, erreicht den Knopf und drückt diesen zügig. Ich glaube, ich habe dabei sogar die Augen zugekniffen. Ungeduldig warte ich auf die Erlösung durch den heran nahenden Fahrstuhl, welcher mich nach wenigen Sekunden erlöst. Unsere Aushilfe wäre ganz sicher vor Schreck im Keller geblieben bis alles wieder frei gewesen wäre.
»Wo warst du solange? Die Bar platzt aus allen Nähten«, mault mich meine Chefin Cassandra an. »Sorry«, murmle ich, denn ich habe ausnahmsweise mal keine Lust mich zu streiten. Meine Schicht verläuft sonst halbwegs normal und ich bin froh als ich morgens um 5 Uhr endlich meine Stufen zu meinem Apartment hinauf steige. Ich bin total erledigt.
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Untamed
RomanceVor acht Jahren hat sich Lexi verändert. Sie ist nicht mehr dasselbe, nette Mädchen. Seit acht Jahren ist sie voller Wut und voller Hass. Denn man hat ihr ihren einzigen Angehörigen, ihren Vater, genommen. Bis heute schweigt ihr Vater über den Grund...