2. Namjoon

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Es war nach Mitternacht. So leise wie möglich schlich ich aus meiner kleinen Kabine, um meine beste Freundin nicht zu wecken. Meine anderen Klassenkameraden natürlich auch nicht. Und meine zwei Lehrer erst recht nicht. Nach 10 Uhr dürfen wir eigentlich unsere Zimmer nicht verlassen. Aber im Moment ging es nicht anders.

Ich stieg die Holztreppe nach oben, um nach draußen auf das Segelboot zu kommen. In meiner dünnen, wenn auch langen Schlafanzughose und in meinem T-Shirt war mir gerade nicht wirklich warm. Für die Klassenfahrt hatten wir zum Glück eine Woche erwischt, die nicht so warm war, wie es die letzte Zeit bei uns zu Hause war. 

Zwar sind 14 Grad noch relativ warm, doch für Anfang Sommer mit diesem kalten Wind hier etwas sehr kühl. Aber ich brauchte einfach frische Luft. Ich muss auf andere Gedanken kommen.

Es sind nicht mehr viele Wochen. Ungefähr die Hälfte meiner Klasse geht nach diesem Schuljahr auf eine andere Schule. Viele werden nicht in meine neue Klasse kommen. Und wahrscheinlich werden dafür alle die ich nicht sonderlich mag aus den Parallelklassen in meine neue kommen. 

Meine Beste Freundin bleibt mit mir auf derselben Schule, aber die Wahrscheinlichkeit, dass wir in dieselbe Klasse kommen, ist genauso gering, wie dass ich auf meinem Abitur einen Durchschnitt von rund 2,0 haben werde. 

Klar haben wir einige Kurse zusammen. Also wir haben dieselben gewählt. Ob wir tatsächlich in denselben Kurs kommen, steht in den Sternen.

Ich sah in den Himmel. Ein paar Sterne waren tatsächlich zu erkennen. Leider weiß ich nicht, was sie sagen. Vielleicht steht meine Antwort tatsächlich in den Sternen, nur kann ich sie nicht lesen. 

Wieso muss alles immer so kompliziert sein?

Auf einmal hörte ich, wie sich eine Tür öffnete. Erschrocken drehte ich mich um. Bitte lass es kein Lehrer sein. Jeder, nur kein Lehrer.

Ich wusste nicht, ob ich erleichtert ausatmen sollte oder seufzten sollte, als Namjoon in mein Blickfeld geriet. Deswegen drehte ich mich einfach zurück und schaute mir das dunkle Wasser des Hafens an. 

Namjoon gesellte sich zu mir und schaute ebenfalls aufs Wasser. Er sagte nichts. Ich hätte gedacht, dass er als Klassensprecher jetzt irgendwas sagen würde, weil ich nachts draußen bin. Komischerweise tat er das nicht. 

Eine ganze Weile standen wir so da. Jetzt einfach zu gehen wäre dumm von mir. Dann würde er erst recht nachfragen, was ich hier mache. Und ich kann niemanden davon erzählen. Von meiner Angst, dass mir die Schule ab nächsten Jahr nicht mehr gefällt, weil ich keine Freunde mehr habe. 

"Willst du wieder reingehen, Osia?", kam es auf einmal doch von Namjoon. Ich schüttelte aber den Kopf. Am liebsten würde ich für immer auf diesem Boot zusammen mit meiner Klasse bleiben. So müsste ich sie niemals gehen lassen. 

Egal wie anstrengend meine Klasse war und immer noch ist. Ich will sie nicht verlieren. Fast vier Jahre sind wir nun schon eine Klasse. Wir haben vieles erlebt. Ob Gutes oder Schlechtes ist egal. 

Denn diese Erfahrungen haben mich vorangebracht. Ohne meine Klasse wäre ich heute nicht die, die ich bin. Und ich bin wirklich froh über mein selbst. Deswegen bin ich dieser Klasse auch so dankbar. 

"Nur noch ein paar Wochen. Dann sind wir alle keine Klasse mehr." Diesmal nickte ich. Bei ihm klingt das so... normal? So natürlich, als wäre es selbstverständlich, dass wir alle auseinander gehen. Als ob er das nicht irgendwie schade findet. 

"Auf meine neue Klasse bin ich sehr gespannt. Neue Klasse, neue Leute, neue Erfahrungen. Ein Abendteuer." Mir sind die neuen Leute egal. Ich will bei meinen alten bleiben. Die, die ich in mein Herz geschlossen habe. Mit allen dazugehörigen Macken.

"Aber meine alte Klasse werde ich sehr vermissen. Vermissen, nicht vergessen. Diese Klasse werde ich niemals vergessen können. Niemand von uns wird das. 

Sie wird nicht verloren gehen. Die Erinnerungen die wir alle in uns tragen, bleiben. Auch wenn wir unsere Klasse manchmal einfach nur loswerden wollten, sind wir dennoch ein Team, zu dem wir ewig gehören werden. 

Unser Team hat seine Macken, seine Fehler, seine Probleme, aber das alles ist okay. Das macht unser Team aus. Jeder hat seine Stärken, jeder hat seine Schwächen. Zusammen aber, gleichen wir uns aus. 

Wie Ebbe und Flut. Zusammen geben sie dem Meer eine Besonderheit. Diese beiden Unterschiede, lassen das Meer leben. Ohne die Gezeiten wäre das Meer nur ein einfacher großer See. 

Wenn wir uns alle voneinander trennen, dann wird das Meer sich auch weiterhin bewegen. Denn in unseren Erinnerungen bewegt es sich. Und allein das reicht, um das Meer am Leben zu lassen."

Überrascht und auch etwas überwältig von seinen Worten sah ich ihn an. Auch er sah mich an. Ich hatte das Gefühl, dass die Zeit für diesen Moment einfach stehen blieb. 

Denn er hatte recht. Ich werde immer eine Erinnerungen an meine Klasse haben. Und Bilder haben ich auch eine Menge. Diese Klasse werde ich nicht vergessen, aber ich werde sie trotzdem vermissen. 

"Namjoon... ich werde euch alle trotzdem vermissen. Die Erinnerungen bringen mir nicht viel", sagte ich leise und sah wieder auf das Wasser unter mir. "Die Erinnerungen reichen mir nicht. Dafür mag ich euch alle zu sehr."

"Vielleicht hast du einfach noch nicht genügend Erinnerungen. Manche freuen sich, die Klasse los zu sein, weil sie zu viele schlechte Erinnerungen an sie haben. Aber du scheinst noch nicht genügend gute Erinnerungen zu haben."

Er sah in die Sterne. Ich tat es ihm gleich. "Wir haben noch einige Wochen als Klasse. Diese solltest du genießen und Erinnerungen sammeln. Und danach heißt es Abschied nehmen. Egal wie schwer es wird. Mit dieser Erinnerungen musst du dann abschließen. 

Nach dem Abschied, nach dem Ende unserer Klasse, folgt ein Neuanfang. Vielleicht wird er dir nicht gleich gefallen, aber sag mir jetzt mal ehrlich, ob dein erster Eindruck von unserer Klasse mit dem heutigen übereinstimmt."

Eine ganze bleibe schwieg ich. Ich schwieg, weil Namjoon recht hatte. Mein erster Eindruck stimmte nicht mit dem von heute überein. Und trotzdem liebe ich diese Klasse jetzt. 

"Mein erster Eindruck war ein anderer. Das stimmt", gab ich zu und sah auch in den Himmel. 

"Du siehst, alles ändert sich mit der Zeit. Auch die Sterne. Einige Sterne die du heute Nacht siehst, werden bald nicht mehr da sein, sie sind vielleicht schon gar nicht mehr da. Aber trotzdem siehst du ihr Licht. Und auch wenn das Licht nicht mehr zu sehen ist, wirst du sie immer in Erinnerungen behalten. 

Und manche Sterne werden nie verschwinden. Ob die Sterne verschwinden oder nicht entscheidest du. Egal ob Tag oder Nacht ist. Du weißt, sie sind da."

"Ich will aber trotzdem nicht, dass sie gehen", sagte ich unter Tränen. "Ich will doch nur weiterhin mit ihnen in eine Klasse gehen. Wir müssen uns nicht privat treffen. Ich will sie nur um mich haben."

Namjoon nahm mich in den Arm. "Hey, alles ist gut. Dieser Abschied wird dir schwerfallen, ja; aber das ist kein Abschied für immer. Das ist definitiv keiner. Vertrau mir. Alles wird gut."

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1160 Wörter

~🌹LY🌹~

BTS One ShotsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt