Teil 16 - Gegenwart

3.6K 158 19
                                    

16 - »Wieder vereint«

Es sind schon einige Tage vergangen. Kemal, der jüngere Bruder weiß bescheid, dass Ismail wieder zurück ist. Nervös warten Kemal und ich, dass Ismail bei mir klingelt. Die Kinder wurden von ihm ins Kindergarten gebracht, weshalb ich ihm wirklich dankbar bin. Mit dieser Kugel kann ich mich nirgends mehr hinbewegen, alles ist so anstrengend geworden.

„Hör auf damit, dass macht mich irre.", verlangt er von mir. Ich höre auf, auf den Tisch zu tippen um meine Nervosität zu sättigen. Ich trinke aus meinem Glas und streiche mir übern Bauch. Wann wohl mein Baby endlich rauskommen will?—
Ich stehe auf, als es klingelt. Kemal schaut mich hilfesuchend an, aber ich greife nach seinem Arm um in zur Tür zu zwingen.

„Mach die Tür auf.", bestimme ich. Er schaut mich fassungslos an und schüttelt kräftig den Kopf. Augenrollend ziehe ich ihn zur Tür, was sehr schwer ist, da er sehr stark ist.

„Azmar bitte.", bittet er, weshalb ich leicht lachen muss. Er fleht mich an, doch jetzt kann er da nicht mehr raus. Ich öffne die Tür und erblicke Ismail, der an der Türlehne angelehnt ist. Kemal verschwindet schnell ins Wohnzimmer, weshalb ich überfordert zu Ismail schaue. Sein Blick verdunkelt sich, er drückt mich zur Seite und läuft ins Wohnzimmer rein. Ich eile ihm hinter. Scheiße, Ismail nimmt es ganz falsch auf! Er betritt vor mir das Wohnzimmer, Kemal wollte gerade auf dem Balkon. Verdattert schaue zu Kemal, der aus dem Balkon springen wollte, aber inne hielt als er Ismail sah. Ohne zu zögern stampfte Ismail auf Kemal zu, der erklärende Haltungen macht, packt ihm am Kragen und schmeißt ihn in das Wohnzimmer rein. Geschockt schaue ich zu Ismail und will dazwischen gehen, doch Ismail greift nach seinen Schultern und klatscht ihn gegen die Wand. Kemal stöhnte schmerzvoll auf, Ismail ballt seine Hand zu einer Faust.

„Wer bist du und was suchst du bei meiner Frau, du Schwuchtel?!", brüllte Ismail und griff nach seinem Hals. Kemal war so geschockt, konnte nicht reden da er so feste zu griff.

„Ismail hör auf, das ist Kemal!", kreische ich und reiße ihn von Kemal, der dann röchelnd nach Luft ringt. Geschockt schauen wir zwei zu Ismail, der selbst geschockt zu Kemal schaut. Seine Hände zittern, er atmet stark ein und aus. Geschockt schaut Ismail zu mir, seine Augen funkeln verdächtig auf. Er öffnet sein Mund, doch aus dem kommen keine Worte.

„Biramîn.", kommt es von Kemal. Seine Lippe ist aufgeplatzt, er schaut traurig zu Ismail rauf. Beide schauen sich innig in die Augen und fangen gleichzeitig an zu schluchzen. Ismail legt seine Arme um seinen jüngeren Bruder und zieht ihn feste zu sich. [mein Bruder]

„Wie viele Jahre ist das her?", schnieft Kemal in Ismails Schulter. Daraufhin fließt eine weitere Träne aus Ismails Auge. Es fällt mir schwer nicht mitzuweinen. Ich kann mich daran erinnern, da waren wir gerade frisch zusammen. Ismail hat sich mit seinem Vater gestritten, weshalb er rausgeschmissen wurde. Wunden sind verheilt, doch die Narben bleiben ewig. Zwar hat er es nie gezeigt, aber er war kaputt. Er war früh auf sich selbst gestellt, hatte keine Familie mehr. Er hatte nur noch mich und unsere gemeinsamen Kinder. Für ihn waren wir die wertvollsten Menschen in seinem Leben, er war unser Beschützer. Aber irgendwann hat er sich geändert. Er wurde handgreiflich, sowohl auch ich. Er hat mich verändert. Er meinte immer zu mir, dass wir es schaffen werden. Wir werden uns niemals verlieren. Doch schau Ismail, denke ich mir. Du hast selbst mich verloren. Immer mehr Schuldgefühle kommen in mir hoch. Ich wusste, wie schwer es Ismail hatte. Er war der älteste in der Familie und wollte für die jüngeren immer ein Vorbild sein. Dann steht er von null auf hundert auf der Straße und muss irgendwie überleben. Ich wüsste nicht, wer ihm geholfen hätte, wenn ich nicht da wäre. Ich war seine Familie. Seine Liebe. Sein Ein und Alles. Ihm muss diese Trauer immer noch so zusetzen, dass er sich mit kriminellen Sachen ablenken wollte. Aber somit hat er sich seine Zukunft mit uns verbockt. Ich streiche mir übern Bauch und schaue traurig zu Ismail. Ich hätte ihn nicht alleine lassen. Er hat mich gebraucht. Dieser Mann hat viel mehr Trauer in sich, als Liebe. Er hat mir die ganze Liebe geschenkt und ist in Selbsthass innerlich versunken.
Ich schaue wieder rauf zu Ismail und Kemal, die sich immer noch umarmen und weinen. Plötzlich blicken seine wunderschönen grünen Augen in meine. Unsere Blicke kreuzen sich, eine Gänsehaut bildet sich auf meiner Haut. Mein Herz fängt wie immer noch schneller an zu schlagen. Leer und still blickt er mich an. Selbst er hat seinen Glanz verloren. Schwer schlucke ich und laufe auf beide zu.

„Endlich habe ich euch wieder zurück.", sprach Kemal zu uns, als er sich von Ismail gelöst hat. Er schaut mich immer noch an, weswegen ich unsicher eine Haarsträhne hinter mein Ohr streiche. Ich bringe beiden Wasser und setze mich zu ihnen. Sie sprachen über Gott und die Welt, Ismail wollte ihn nicht mehr gehen lassen.

Mustafa Babo

Unruhig schleudere ich das Tesbeeh in meiner Hand und schaue mir die Nachrichten an. Ab und zu schaue ich auf die Uhr und schlürfe an meinem Çay. Fatma meine Ehefrau brachte mir Gebäck ins Wohnzimmer und gesellte sich zu mir.

„Wo bleibt denn Kemal? Wollte er nicht früher Nachhause kommen?", fragt sie mich. Ich zucke mit meinen Schultern und schalte den Fernseher aus. Ruckartig stehe ich auf, als ich das Klicken der Haustür höre. Schnell laufe ich mit Fatma ins Flur und sehen Kemal, der sich seine Schuhe abschleift.

„Und? Wie war es bei Ismail?", fragte ich neugierig. „Hat er nach uns gefragt?", fügte ich hinzu. Als ich mitbekommen habe, dass Kemal Azmar wieder gefunden hat, war ich glücklicher denn je.

„Es war toll bei meinem Bruder.", sprach er lächelnd. Mein Mundwinkel zuckte rauf, doch schon wandelte es sich in Trauer um. Mein Hals fühlt sich unangenehm trocken an, ich spüre eine Hand auf meiner Schulter. Überrascht blicke ich in die Augen meines Sohnes Kemal, der mich genauso ansieht.

„Babo hör auf so stur zu sein und Vertrag dich mit deinem Sohn.", sprach er. Ich schüttle seine Hand ab und laufe in mein Zimmer rein. Im dunklen lege ich mich auf mein Bett hin und knipse die Nachttischlampe an. Aus der unteren Schublade krame ich nach den Bildern meiner Enkeln. Meine Lippe fängt an zu beben, als ich meinen wundervollen Enkel Malik auf dem Bild erblicke. Er grinst in die Kamera und hält seine kleine wunderschöne Schwester Maliha im Arm. Beide mein großer Stolz. Wie sehr ich sie mal sehen möchte. Jetzt erwarte ich noch ein Enkel, was mich aus der Fassung bringt. Azmar war schon immer wie eine eigene Tochter für uns, doch als mein Ältester eigene Wege hatte, ist der Kontakt kaputt gegangen.

Ach Ismail, sei nicht wie ich und zerstöre dir nicht deine eigene Familie. Denn du weißt was es für ein Schmerz ist. Beidseitig, als Vater und  auch als Kind.

I wish people had trailersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt