Kapitel 2

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Nachdem der Ablauf für den morgigen Tag besprochen wurde, und ich nur die Hälfte davon mitbekommen habe, treffen die Schülerinnen und Schüler allmählich für die Generalprobe ein. Das Event steht unter dem Begriff der Utopie. Schüler verschiedener Schulen und Altersgruppen waren in den letzten Monaten dazu aufgerufen Gruppen, sogenannte Tandems, zu bilden, in welchen sie überlegen sollten wie das Theater der Zukunft für sie aussieht. Jedes Tandem hat ein anderes Thema, aber immer in Bezug auf Utopien des Theaters.

Ich falte alle Blätter mit Informationen, die wir für morgen bekommen haben säuberlich und bin schon gewillt aufzustehen, um aus seinem Blickfeld zu verschwinden, als hinter ihm plötzlich eine kleine Frau die Terrasse betritt, auf ihn zukommt und ihm die Hand auf die Schulter legt. Sie hat naturrotes Haar, volle breite Lippen und tief sitzende Augenbrauen - mein Blick schnellt zu Alex, der sich in diesem Moment erhebt um sie zu begrüßen. Er ringt sich ein Lächeln ab und beugt sich tief zu ihr hinunter, damit sie ihm etwas zuflüstern kann. In diesem Moment, als ihre Gesichter so nah beieinander sind, besteht kein Zweifel mehr - sie muss seine Tante sein. Als sie sich herumdreht um zu gehen, sehe ich, dass sie schwanger ist.
Warum bekommen Frauen nur so viele Kinder? Natürlich ist es etwas wunderbares und zwei Kinder sind vermutlich auch besser zusammen als eins allein - dennoch, etwas in meinem Kopf wehrt sich stetig gegen die Vorstellung selbst einmal Kinder zu haben. Vielleicht weil ich Angst um meine Figur hätte, oder um die Zeit für mich selbst..
"Hey", unterbricht mich eine Stimme,
"starr sie nicht so an. Sie ist nicht fett, sie bekommt Zwillinge".
Alex hat sich auf dem Tisch und der Armlehne meines Stuhls abgestürzt und steht damit, leicht über mich gebeugt, vor mir. Seine Muskeln sind angespannt und treten so deutlich hervor - er muss stark sein, vermutlich trainiert er oder geht ins Fitnessstudio, wie jeder auf mich attraktiv wirkende Mann.
Nur, dass ihr zwei niemals zusammenkommen werdet,
erinnert mich die Stimme in meinem Kopf. Ich hasse es wenn sie Recht hat.
"Ich.. ich dachte nicht, dass sie fett ist", gebe ich schließlich zu meiner Verteidigung zurück, obwohl diese niemand gefordert hatte. Alex schaut mich stirnrunzelnd an, erst jetzt bemerke ich, dass sich alle Anderen bereits von den Bänken erhoben haben und auf dem Weg ins Haus sind. Alex verdreht die Augen und bevor ich reagieren kann, hat er mich schon an den Handgelenken gepackt und mit seinen kräftigen Armen nach oben gezogen.
Bereitwillig folge ich ihm durch die Pforte in das Gebäude, in welchem mich Steffen heute Morgen begrüßt hatte.
Alex führt uns die Treppe neben der gläsernen Eingangstür hinab in einen kleinen, dunklen Raum, die Probebühne P25.
Wir haben das Ton-Tandem erreicht.
"Augen zu!", befiehlt eine kleine, zarte Stimme, vermutlich die einer Schülerin. Doch ich kann nicht. Ich muss die Kontrolle behalten, schießt es mir durch den Kopf. Ein Kind beginnt auf der sporadisch errichteten Bühne leise zu trommeln, während ein Anderes mit den Händen durch den, auf einem Holztablett liegenden, Sand fährt.
"Augen zu!", flüstert eine Stimme ganz dicht neben meinem Ohr. Alex. Ein leichter Schauer durchfährt meinen Körper und ich friere ein. Seine Hand gleitet sanft über mein Gesicht und schließt damit meine Augen. Warum muss dieser Typ nur so eine Wirkung auf mich haben? Vielleicht quält er mich auch nur damit, weil er mich längst durchschaut hat und weiß, dass er mir gefällt.
Als ich die Augen leicht öffne um noch ein letztes Mal durch meine Wimpern zu ihm hoch zu spähen, steht er so nah, dass sich unsere Arme fast berühren. Seine Augen sind geschlossen - er sieht friedlich aus und auf eine Art und Weise, die ich nicht beschreiben kann, gibt er mir das Gefühl von Sicherheit. Ich schließe meine Augen wieder und genieße den Rest der Vorstellung, bis sich alle gemeinsam zur nächsten Station, dem Theater-Tandem, begeben. Dieses befindet sich im Hauptgebäude, weshalb wir wieder den Weg um das Gebäude, am kleinen Park vorbei, wählen. Steffen zieht die riesige Glastür auf und wir betreten die Lobby, in der sich die Garderobe befindet. Über eine massive Steintreppe gelangen wir in das Obergeschoss und stehen somit in dem Foyer, einem großen Vorraum, welcher praktisch das gesamte Geschoss einnimmt und für die Pause bestimmt ist. Die Wände sind durch Glas ersetzt worden, wodurch man ungehindert hinaussehen kann. Große Stehtische und Sessel sind um die Bar im rechten Teil des Raumes verteilt und werden durch ein großes, weißes Piano ergänzt.
Schließlich erreichen wir den Eingang zum Zuschauerraum und werden von Schülern einer 11. Klasse empfangen, die alle verschiedene Haltungen eingenommen haben und uns im sogenannten freeze den Weg weisen. Ich erblicke Steffen in der letzten Reihe und beschließe, mich ein paar Plätze neben ihm niederzulassen. Natürlich muss das der Platz am Gang sein, damit der Fluchtweg garantiert ist. Könnte irgendjemand hier meine Gedanken lesen, würde er wahrscheinlich laut anfangen zu lachen und mich für verrückt erklären, weil all das im Grunde auch verrückt ist. Das Licht geht aus und ich frage mich unwillkürlich wo Alex ist. Verdammt.
Doch plötzlich spüre ich einen kühlen Lufthauch in meinem Nacken und seine Lippen an meinem Ohr.
"Na, hast du mich vermisst?", raunt er kaum hörbar und ich muss unweigerlich grinsen, weil er Recht hat. Gleichzeitig durchfährt mich ein Schauer, da mir bewusst wird, wozu er womöglich in der Lage ist. Für einen kurzen Augenblick überlege ich einfach zu gehen, das Praktikum abzubrechen. Es ist dumm, aber ich will diese Situation nicht provozieren, ich will mich nicht auf etwas einlassen, aus dem ich nicht wieder herauskomme, und er scheint nicht locker lassen zu wollen.

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