Kapitel 3

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Die Pflicht ruft, hat er gesagt.
Er hat mit seinem Smartphone gewackelt und schief gelächelt.
Die Bilder zucken vor meinem inneren Auge hin und her.
Welche Pflicht? Hat er einen Nebenjob oder so etwas in der Art?
Ich krame in meiner Tasche und fische mein Smartphone hervor. Ich muss etwas über ihn herausfinden. Das ist wohl eine der besten Aufgaben für mich. Ich bin ausdauernd und perfektionistisch. Wenn ich mich für etwas interessiere, dann will ich alles darüber wissen, und so verhält es sich auch mit Personen.. mit Alex.
Doch ich kenne nicht seinen ganzen Namen.
Bevor ich mich versehe, bin ich auf der Internetseite des Theaters gelandet und scrolle durch die angegebenen Kontakte, der entsprechenden Abteilungen. Wenn Anna seine Tante ist, wird sie vermutlich den gleichen Nachnamen haben wie er.
Ich finde drei Schauspielerinnen mit dem Namen "Anna", die aber alle nicht aussehen wie diese kleine Frau mit den roten Haaren.
Ich schließe den Tab und lasse meinen Blick nach draußen schweifen. Häuser und Menschen ziehen wie Augenblicke vorbei. So schwer kann es nicht sein eine Person im Internet zu finden. Vielleicht habe ich an der falschen Stelle gesucht. Ich kann nicht gleich wieder aufgeben.
Die S-Bahn kommt zum stehen und neue Fahrgäste steigen ein. Zwei Frauen mit Aktenkoffern lassen sich vor mir nieder und beginnen lautstark über Architektur zu diskutieren.
"Glas für den Hauptsitz", posaunt die eine.
"Wir haben Glas bereits in einem Nebengebäude verwendet, der Auftraggeber erwartet etwas exklusives", rechtfertigt sich die andere.
Ein Nebengebäude. Das ist es.
Anna arbeitet nicht im Hauptgebäude des Theaters, sondern in einem Nebengebäude. Sie kann also nicht zum Ensemble, nicht zur Technik und auch nicht zur Regie oder sonstigem gehören. Es hätte mir viel eher auffallen können, Alex hat mir ihren Arbeitsplatz im Büro gezeigt, doch ich war zu sehr damit beschäftigt an ihn selbst zu denken. Schnell öffne ich die E-Mail, die ich zur Bestätigung meines Praktikumplatzes erhalten habe. Wie erwartet stammt diese nicht vom Theater selbst, sondern vom jungen.theater, dass sich um Angebote in Schulen kümmert und die Jugendspielgruppe leitet. Außerdem kümmert es sich, wie in meinem Fall, um Schülerpraktika.
Und tatsächlich finde ich einen Link zu einer extra Internetseite des jungen.theaters und nach ein paar Klicks auch Anna, als "Anna Glove" in der Theaterpädagogischen Abteilung. Diese Gesichtszüge sind einfach unverkennbar.
Nach ein paar weiteren Klicks lande ich auf einem Facebook Profil - seinem Profil.
Mein Herz setzt einen Schlag aus, als ich ihn auf einem Bild entdecke. Er lacht nicht, lächelt nicht, schaut aber direkt in die Kamera und sein kalter Blick jagt mir einen Schauer über den Rücken. "Don't Drink and Drive", steht darunter. Er war mit dem Fahrrad da, nicht mit dem Auto. Sofort muss ich an einen Unfall in der Familie oder dem Freundeskreis denken. Doch ich will nicht zu viel hineininterpretieren.
Auf einem anderen Bild schaut er nicht in die Kamera, lächelt aber, was mich auf eine merkwürdige Art und Weise beruhigt.
Ich scrolle durch sein Profil. Er hat fast nur weibliche Freunde. Was habe ich auch anderes erwartet?
Sein Lieblingsbuch ist "Marijuana Is Safer", ein Buch über die Legalisierung von Cannabis in Colorado.
Wahrscheinlich hat er selbst Gras geraucht als er telefonierte und hat deswegen anders als jeder andere, normale Raucher gerochen, als er wieder hereinkam. Ich kenne mich nicht mit Cannabis aus, ich habe noch nie Gras geraucht und will es auch nicht. Aber zu wissen, dass er es vielleicht tut, löst gleichermaßen Unbehagen und Mitleid in mir aus. Diese Kombination macht auf einmal so viel Sinn. Die Botschaft des Buches lautet "Marijuana is Safer -
So Why Are We Driving People to Drink?".
Er trinkt keinen Alkohol, sondern raucht Gras, weil er womöglich schlechte Erfahrungen mit Alkohol gemacht hat und das Buch ihn darin bestärkt, dass Cannabis im Organismus weniger Schaden anrichtet als Alkohol und somit besser ist.
Plötzlich empfinde ich das Gefühl ihm helfen zu müssen, obwohl offensichtlich ist, dass eher ich diejenige bin, die Hilfe braucht.
Ich reiße mich von diesen Gedanken los. Ich will nichts spekulieren ohne zu wissen, was wirklich dahinter steckt. Ich habe gar nicht das Recht dazu, so über ihn zu denken. Also scrolle ich weiter durch sein Profil und gelange zu den öffentlichen Gruppen, denen er beigetreten ist.
Mein Atem stockt.
Ich hatte mit diversen Cannabis-Gruppen gerechnet, doch was ich hier finde übertrifft meine Erwartungen eindeutig.
Von der Gang-Bang-Party-Gruppe, über die Sex-Dates-Gruppe bis hin zu diversen SM-Gruppen ist alles vertreten.
Ich weiß nicht, ob ich lachen oder schreien soll. Es schockiert mich. Ich weiß nicht was ich dachte, aber damit hatte ich nicht gerechnet.
Es passt nicht. Er hat mir heute einen völlig anderen Eindruck von sich vermittelt, oder hatte ich mich einfach nur in ihm getäuscht? War es nur seine unschuldige, hilfsbereite Fassade?
Ich weiß nicht, wie ich ihm morgen begegnen soll.
Vermutlich hat er auch heute eine Verabredung. Vermutlich die Pflicht, die ruft, von der er sprach.
Ich lasse meinen Kopf gegen die Scheibe sinken und schließe die Augen.
Das war eindeutig zu viel für heute.

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