Nie hätte ich gedacht, dass sich meine innere Welt, in der ich alles sein kann und mutig bin, mit der realen Welt verknüpfen lässt.
Alex steht vor mir, die Arme noch immer um meine Taille geschlungen. Es ist real.
Doch die Elice, die nicht so viel nachdenkt und mutig ist, war es bisher nicht.
Bisher.
Schnell stelle ich mich auf die Zehenspitzen und schlinge einen Arm um seinen Hals.
Seine grauen Augen leuchten farblos im Licht und machen mir Angst, doch sein Duft umhüllt mich, wie seine Arme, mit Leichtigkeit und Sicherheit.
Ich neige den Kopf und nähere mich seinen Lippen, bevor ich es mir anders überlegen kann.
Dieses Mal werde ich nicht weglaufen. Dieses Mal werde ich mutig sein. Ich bin voller Euphorie und er lächelt mich an, als Bestätigung, denke ich. Doch bevor meine Lippen seine berühren können, dreht er den Kopf und gibt mir einen kleinen, gehauchten Kuss auf die Wange. Dann lässt er mich los, vergräbt die Hände in den Hosentaschen und schaut zum Himmel.
Ich spüre den Stich in meinem Herz und verberge das Gesicht in den Händen.
Diese Situation ist mir unheimlich peinlich. Wie konnte ich glauben einmal mutig zu sein und Erfolg zu haben.
Ich drehe mich von ihm weg und steuere auf die Bäckerei zu. Zumindest kann ich die mir aufgetragenen Aufgaben erfüllen.
Er folgt mir nicht, wie ich feststelle, als ich die Bäckerei betrete. Durch die große Glasscheibe kann ich ihn noch immer auf dem Gehweg stehen sehen. Er starrt ins Leere und dreht sich geistesgegenwärtig eine Zigarette, die er sogleich wieder wegwirft.
Plötzlich begegnen sich unsere Blicke. Er starrt mich an. Verwirrt, irgendwie wütend. Selbst über diese Distanz kann ich seine zusammengezogenen Augenbrauen erkennen."Was darf es denn sein?", reißt mich der Bäcker zurück in den kleinen, nach Zimtschnecken duftenden, Laden.
Schnell gebe ich meine Bestellung ab und lasse den Blick wieder durch die Glasscheibe zu Alex gleiten. Doch Alex steht nicht mehr da. Er ist weg.
Resigniert stoße ich die Luft aus und schaue auf den Boden.
"Ms", der Bäcker räuspert sich und reicht mir eine kleine Zimtschnecke über die Theke.
"Oh, danke, aber ich kann doch nicht - ", beginne ich zu stottern.
"Für die Wartezeit. Die Brötchen brauchen noch ein bisschen", er hält inne und mustert mich.
"Und sie sehen aus, als könnten sie es ganz gut gebrauchen."
Er lächelt mir mitfühlend zu, reicht mir die Zimtschnecke und verschwindet durch eine Tür.
Meine Gedanken kreisen.
Wo ist Alex?
Warum bekomme ich eine Zimtschnecke und will sie nicht essen?
Warum bin ich so krank und rede mir ein mich davon übergeben zu müssen?
Ich kann nicht mehr.
Der zweite Tiefpunkt an diesem Tag.Ich lasse die Zimtschnecke in meiner Hand sinken und starre erneut aus dem Fenster.
„Isst du die noch, oder kann ich sie haben?"
Erschrocken fahre ich herum und sehen in Alex' Augen. Ich habe nicht bemerkt, wie er hinein gekommen ist. Er sieht mich erwartungsvoll an.
"Was?"
Ich bin perplex, gelähmt, unfähig zu antworten.
Davon abgesehen weiß ich nicht, wonach er überhaupt gefragt hat.
Er lächelt und nimmt mir das Gebäck aus der Hand.
"Danke, ich... ich hätte sie nicht gegessen... ich meine, schon, also...", ich stocke, denn ich bemerke wie bescheuert ich mich anhöre.
"Ich bin allergisch auf Zimt", lüge ich, um mich schnell aus dieser unangenehmen Situation hinauszureden.
Er lächelt und nickt.
Peinlich berührt starre ich nach vorn und ergreife schnell die Kiste, als der Bäcker mit den Brötchen zurückkommt.Für die nächsten Stunden versuche ich Alex weitestgehend aus dem Weg zu gehen.
Er allerdings sucht offensichtlich immer wieder meine Nähe. Ich spüre förmlich, wie sich sein Blick in meinen Rücken bohrt oder über meinen Körper gleitet.
Es ist mir unangenehm, aber ein Teil in mir verzehrt sich nach seiner Nähe, nach seinen Blicken, nach dieser Aufmerksamkeit.
Gerade als ich in Gedanken versunken die Brücke zur Probebühne hinunterstürme, stoße ich mit Alex zusammen, der gerade die Treppe hinauf will.
"Na Madame, nicht so stürmisch!", er grinst mich an und lässt meine Arme wieder los, welche er eben noch fest umklammert hat, um einen schlimmeren Zusammenstoß offenbar zu verhindern.
Ich erwidere kurz seinen Blick und schiebe mich dann an ihm vorbei, um die Stühle der Probebühne zurechtzurücken.
"Elice?"
Ich höre, dass er mir folgt und die Tür hinter sich schließt.
Ein Schub aus Adrenalin und Panik durchfährt meinen Körper.Ich bleibe stehen, denn ich weiß, dass er direkt hinter mir steht.
"Alex.. bitte..", versuche ich ihn in einem letzten Versuch von mir fernzuhalten.
Doch zu spät, seine Hand berührt bereits meine Schulter und dreht mich sanft zu sich um.
Er zeichnet meine Kieferlinie mit seinem Daumen nach bis zum Kinn und hebt es vorsichtig an, sodass ich ihn zwangsläufig ansehen muss.
"Was ist los?", seine Stimme klingt fest. Er scheint es ernst zu meinen.
Ich hebe den Blick und schaue ihm in die Augen. Ganz ruhig sieht er mich an, wenngleich sich ein wenig Härte in seinem Blick spiegelt.
Ich atme seinen Duft ein und halte die Luft einige Sekunden an.
"Ich will mit dir ausgehen."
Die Worte sprudeln aus mir heraus, ohne, dass ich beabsichtigt habe sie so schnell auszusprechen.
Die Züge in seinem Gesicht glätten sich und ein zufriedenes Grinsen tritt an Stelle des besorgten Ausdrucks.
"Ist das so?", er grinst noch immer.
Ich will den Blick senken, doch er hält mein Kinn fest.
"Sag es mir, während du mich ansiehst", fordert er selbstsicher.
"Ich will mit dir ausgehen", wiederhole ich leise während ich ihn ansehe.
"Aber ich kann nicht."
Seine Miene verdunkelt sich.
"Warum?"
Ich spüre wie ich wütend werde. Oder traurig. Oder beides.
"Weil ich sowas einfach nicht kann!", rufe ich laut aus, was ich denke.
"Weil du ständig wegrennst, statt dich auf eine Situation einzulassen."
Eine Situation?
Plötzlich überkommt mich das Gefühl überführt worden zu sein und ich fühle mich kleiner denn je.
"Du weißt überhaupt nichts über mich!"
Ich reiße mich von ihm los, woraufhin er einen Schritt auf mich zu macht, meinen Nacken ergreift und mich an sich zieht."Das würde ich gern ändern", flüstert er nah an meinem Gesicht.
Ein Schauer jagt durch meinen Körper. Ein Schauer, der sich erstaunlich gut anfühlt; mein Blut gleichermaßen gefrieren und kochen lässt.
"Elice", haucht er, während seine Zähne mein Ohrläppchen ergreifen.
Erschrocken und überwältigt zucke ich zusammen.
Langsam drängt er mich zurück und ich spüre den schweren Stoff des Vorhangs der Bühne an meinem Rücken.
"Alex", flüstere ich unschuldig und hilflos, als sich seine Lippen auf meine legen.Zumindest legen wollen, denn in diesem Moment klingelt sein Handy und reißt uns zurück in die Realität, zurück in den Proberaum.
Er dreht mir den Rücken zu und verschwindet durch die Tür, ohne etwas zu sagen.
Einige Minuten bleibe ich wie angewurzelt stehen und versuche meine Gedanken zu ordnen, darauf hoffend, dass Alex zu mir zurückkehrt. Doch als er nach 10 Minuten noch immer nicht wieder aufgetaucht ist, beginne ich die an den Wänden gestapelten Stühle in einem Halbkreis aufzustellen.Als ich wieder hinauf gehe, weißt mir Steffen eine Gruppe aufgeregter Eltern und Angehöriger zu, welche ich nun durch die Theatertandems begleite.
Auf unserem Rundgang durch das Theater, sehe ich immer wieder andere Gruppen und deren Führer, doch keiner von ihnen ist Alex, und keiner von ihnen scheint etwas, oder jemanden zu vermissen, keiner außer mir.Irgendwann höre ich auf mir darüber Gedanken zu machen und genieße stattdessen die kleinen Aufführungen der Kinder, die ich bereits von der Generalprobe kenne.
Als auf der Hauptbühne dann der Vorhang fällt, scheinen sich alle einig zu sein; dies war ein gelungener Tag.Etwas enttäuscht lasse ich meinen Blick ein letztes Mal durch den Raum schweifen. Vergeblich. Alex ist wie vom Erdboden verschluckt.
Ich hole meinen Rucksack aus dem Büro, schlendere durch die langen Gänge des Theaters und verabschiede mich beim Pförtner, als ich meinen Generalschlüssel abgebe."Ms Brooke?"
Ich wollte gerade gehen. Die Worte spreche ich natürlich nicht laut aus.
"Das hier wurde für sie abgegeben."
Er überreicht mir eine kleine gefaltete Karte aus strukturiertem Papier.
"Danke..", ungläubig starre ich die Karte an und falte sie auf."
19 Uhr
Goldener Anker
Alex
"
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show me love
Teen FictionDie 17-Jährige Elice Brooke hat keine Ahnung was sie mit ihrem Leben anfangen soll. Sie ist ängstlich, zurückhaltend aber intelligent. Sie erlebt keine Abenteuer, viel mehr ist sie Träumerin und scheint in keine Schublade zu passen. An ihrem ersten...