Kapitel 7

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Kurz bevor ich die Toiletten erreichen kann, holt er mich ein und packt mich an den Schultern, sodass ich mich unweigerlich zu ihm umdrehen muss.

"Könntest du bitte aufhören ständig wegzurennen?"
Sein Tonfall klingt aufgebracht und erschöpft zugleich.
"Nein."
Ich befreie mich hastig aus seinem Griff und drehe mich um, um schnell die Tür der Damen zu erreichen.
Erleichtert atme ich auf, als endlich kaltes Wasser über meine Handgelenke läuft.
Ein paar Tränen haben sich bereits aus meinem Augenwinkel gestohlen, wie der prüfende Blick im Spiegel verrät. 
Erschöpft lasse ich den Kopf auf das kühle Keramik vor mir sinken.
Ich bin ein Versager. Ich bin ein Versager.
Unweigerlich muss ich die Worte wieder und wieder in meinem Kopf wiederholen und bin kurz davor mich selbst zu ohrfeigen, als die Tür plötzlich mit Schwung aufgerissen wird.
Ich reiße meinen Kopf hoch und starre Alex an.
"Das ist eine Frauentoilette?!", rufe ich viel lauter als beabsichtigt.
"Und? Glaubst du ich habe noch nie eine Frau beim Tampon wechseln gesehen?"
"W- was?"
"Du hast mich schon gehört."
Er verzieht keine Miene. Im Gegenteil, sein selbstsicherer Blick verrät mir, dass das kein Witz war.
"Ich habe nicht meine Tage! Ich möchte einfach nur kurz allein sein, geht das nicht?!", schreie ich ihn aufgelöst an.
Ich weiß gar nicht warum ich schreie. Ich weiß gar nichts mehr.

"Nein", sagt er ruhig und entschlossen. Er macht einen Schritt auf mich zu und ich spüre seine Hand an meiner Wange, die vom weinen ganz nass ist.
"Was ist los mit dir? Habe ich dir weh getan?"
Er fixiert mich mit seinem Blick.
In diesem Moment denke ich, dass seine Augen doch ganz gut zu ihm passen. Sie sind farblos, ohne Leben und kalt, wie er.

Mach dir doch nichts vor, Elice.
Schieb das Problem nicht auf ihn.
Du bist hier die einzige Person ohne Leben.
Du bist die Verrückte hier!

"Nein.. Es ist nicht.. Du bist nur so.. ", stottere ich schließlich und weiß nicht, was ich sagen soll.
"Kalt", ergänzt er meinen Satz. "Ich weiß."
Ich sehe ihn an, ohne etwas zu sagen. Dann nicke ich. Vermutlich kann er mit diesen Augen auch noch Gedankenlesen.
"Im Sommer ist das ganz angenehm. Man braucht keine Klimaanlage", sagt er und grinst nun wieder selbstverliebt.

Ich übergehe seinen Kommentar und fokussiere mich stattdessen wieder auf den Grund, weshalb ich hier bin, mein Praktikum. Alex hätte mich ohnehin nie interessieren dürfen. Wir sind quasi nur Kollegen.
"Wir sollten wieder hoch gehen", sage ich entschlossen.
Er sieht mich verwirrt an.
"Elice, das war ein Scherz. Sieh mich nicht so böse an. Ich weiß nicht, was gerade das Problem war, aber ich wollte dich sicher nicht verletzten, auf welche Weise auch immer."
Ich drehe mich um, um mich im Spiegel zu betrachten. Die Mascara ist nicht so schlimm verlaufen, wie erwartet.
Oder nach meiner Panikattacke heute morgen ist davon erst gar nichts mehr übrig geblieben.
"Du siehst gut aus", sagt er und betrachtet meine kritische Miene im Spiegel.
Ich sehe ihn für einen kurzen Moment an. Unsere Blicke begegnen sich, trotz, dass wir in dieselbe Richtung schauen. Dann drehe ich mich um.
"Tut mir leid, dass ich dich eben angeschrien habe."
Es tut mir wirklich leid, auch wenn ich ihn immernoch nicht verstehe. Aber etwas an seiner Art bleibt, das mich schneller beruhigt, als dass ich es je selbst könnte.
Er nickt kurz und deutet auf die Tür.
"Wollen wir?"
Ich lächele zaghaft und gehe zur Tür.
Er folgt mir nach oben.

Als wir durch die Pforte auf die Terrasse treten, sitzen alle Kinder an den massiven Holztischen und essen die mir gut bekannten Spezialitäten des Kinderbuffets.  
Steffen sieht überrascht aus uns zu sehen. Er tauscht ein paar leere Glaskaraffen gegen volle, bevor er zu uns kommt.
"Wo kommt ihr beiden denn her? Solltet ihr nicht in der Mittagspause sein?", fragt er mit einem freundlichen Lächeln wie immer.
"Wir sind schon fertig", entgegne ich wahrheitsgemäß.
"Okay, Elice. Dann nehme ich gern deine Arbeitskraft in Anspruch. Wir brauchen mehr Brötchen. Am besten 100, oder so viele sie haben."
Er drückt mir einen Geldschein in die Hand und erklärt mir den Weg zum Bäcker. Er liegt gleich neben dem Bürogebäude.
Alex folgt mir auf Schritt und Tritt.
"Was machst du heute Abend?", fragt er als wir das Hauptgebäude verlassen.
"Nichts."
"Gehst du mit mir aus?"
Wie bitte? Ich spüre wie mein Herz einen Satz macht, doch mein Verstand reagiert schneller.
"Nein, ich meine, nichts, das dich was angeht. Ich habe schon was vor."
Das ist natürlich auf ganzer Linie gelogen.
Ich starre auf den Boden während ich weitergehe.
Verdammt, natürlich hätte ich Lust mit ihm auszugehen, aber wie sollte das funktionieren? Wie könnte ich entspannt sein? Wie essen? Oder überhaupt atmen?
"Ich kann nicht", berichtige ich meine Aussage.
"Ich muss wohl vergessen haben, dass ich donnerstags immer.. immer", ich stocke.
Er schaut mich erwartungsvoll an.
Denk, Elice, denk nach, verdammt.
Die wirren Gedanken rasen durch meinen Kopf.
"Pilates habe", beende ich den Satz schnell, bevor er noch misstrauischer wird.

Du bist so eine schlechte Lügnerin, höhnt die Stimme in meinem Kopf, doch ich ignoriere sie, auch wenn ich sehr wohl weiß, dass sie recht hat.

Er zieht eine Augenbraue nach oben.
"Schade, ab morgen werde ich nicht mehr da sein."
Die Nachricht überrascht mich. Ich bin ein bisschen erleichtert, weil ich mich die nächsten zwei Wochen so vollkommen auf das Praktikum konzentrieren kann, aber auf der anderen Seite bin ich enttäuscht. Wer soll mich das nächste Mal vor einer Panikattacke retten?
Wir kennen uns kaum, aber ich vertraue ihm. Ich fühle mich sicher in seiner Nähe, auch wenn mich seine Anwesenheit gleichermaßen nervös macht.
"Ja.. schade", murmele ich gedankenverloren.
"Was ist denn Pilates?"
Seine Frage reißt mich augenblicklich in die Gegenwart zurück. Fuck, was ist Pilates? Ich habe das Wort nur von den vielen Plakaten in der Stadt aufgeschnappt, aber ich habe nie hinterfragt, was es ist.
Ich bin verloren.

"Elice?", er grinst mich an.
"Ähh, ja. Pilates. Ähm, ein.."
Ich denke angestrengt nach. Er hat gefragt, ich könnte alles behaupten.
"Eine Sportart. Pilates ist eine Sportart", platze ich heraus.
Ich schaue strikt geradeaus. Wahrscheinlich werde ich genau in diesem Moment furchtbar rot.
"Eine Sportart?"
Ich nicke heftig ohne ihn anzusehen.
Keinen Moment später schubst er mich zur Seite.
"Hey!"
Ich schaue ihn drohend an und schubse zurück.
Er grinst belustigt.
Ich mache mich schon auf den nächsten Stoß seinerseits gefasst, als er mir plötzlich zuvor kommt und seinen Arm in einer schnellen Bewegung um meine Taille schlingt.
Er zieht mich nah an sich heran und schaut mir ernst in die Augen.

"Du hast gar kein Pilates."
Es ist eine Tatsache und genau so betont er es auch.
"Du weißt nicht einmal, was das überhaupt ist."
Er lacht und ich kann nicht anders als unschuldig mitzulachen.

Es ist ein Moment, ein Moment, in dem ich an nichts denken muss und einfach frei bin.
Nicht an die Angst, nicht ans Versagen und nicht an die Zukunft.
Nur Alex, den ich ansehe und um dessen Mund sich Grübchen bilden, wenn er lacht, spiegelt sich in meinem Blick.

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