Kapitel 4

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Als ich am nächsten Morgen aufwache, scheint die Sonne mir bereits durch das große Fenster neben meinem Bett ins Gesicht.
Es ist 7.09 Uhr.
Shit - ich soll 7.30 Uhr im Theater sein und meine Bahn kommt in knapp zehn Minuten.
Sofort bin ich hellwach und springe hecktisch aus dem Bett um ins Bad zu sprinten. Zehn Minuten reichen niemals für meine Morgenroutine. Ich sollte wirklich anfangen mir einen Wecker zu stellen.
Glücklicherweise habe ich gestern Abend bereits geduscht und mir das Outfit für heute herausgelegt, sodass ich jetzt nur noch schnell in die schwarze Slack und das weiße Shirt schlüpfen muss.
Auf dem Weg nach unten stecke ich noch Augenbrauenpuder und Wimperntusche in meinen Rucksack und entscheide mich im Flur für weiße Chucks.
Ein Blick auf die Uhr sagt mir, dass es 7.15 Uhr ist. Wenn ich renne, brauche ich drei Minuten bis zur Bahn. Mir bleiben also noch zwei Minuten. Entschlossen gehe ich in die Küche, um mir eine Flasche Wasser, sowie einen Apfel und einen Müsliriegel für den Tag einzupacken, zumindest für mein Frühstück. Für das Mittagessen muss ich mich heute wohl mit der Theaterkantine begnügen.
Am liebsten plane ich immer alles im vorraus. Es gibt mir das Gefühl die Kontrolle zu haben. Doch heute werde ich auf keinen Plan zurückgreifen können, ich kann nicht wissen, was passieren wird. Das macht mich unsicher.
Doch solange ich noch die Kontrolle habe, werde ich mich an den Plan halten.

Kurze Zeit später renne ich die Treppen zum Gleis hinauf und sehe bereits meine Bahn. Ein Lächeln macht sich auf meinen Lippen breit. Ich habe es geschafft, ich werde pünktlich sein. Doch mit jeder einzelnen Treppenstufe, die ich zurücklege, schwindet dieses Lächeln. Wenn ich nicht gerade halluziniere, rollt meine Bahn. Ich beschleunige meine Schritte noch mehr. Als ich oben ankomme, sehe ich nur noch die Rücklichter. Paranoid wie ich bin, renne ich dem Zug noch ein Stück weiter hinterher, bis ich endlich realisiere, dass es vorbei ist und ich meine Bahn tatsächlich verpasst habe. Wäre ich nicht nochmal in die Küche gegangen, hätte ich mir doch einen Wecker gestellt. Es hätte nicht passieren müssen. Immernoch stehe ich wie angewurzelt da und schaue in die Richtung, in die der Zug soeben verschwunden ist. Leise fluche ich in mich hinein.
Dann wird mir klar, dass ich jemanden darüber informieren muss. Wir haben gestern mit Steffen Nummern getauscht, sodass er die einzige Möglichkeit darstellt, jemanden zu erreichen.
Mit zittrigen Fingern wähle ich seinen Kontakt aus.
Nach dem dritten Klingen geht er ran.
"Hallo.. Elice hier", selbst meine Stimme zittert.
"Ich.. ich habe gerade ganz knapp meine Bahn verpasst. Die nächste kommt erst in 20 Minuten... ich werde nicht vor acht Uhr da sein können.." stammele ich. Und das an meinem ersten richtigen Arbeitstag. Wahrscheinlich sagt er jetzt, dass ich gar nicht mehr wieder zu kommen brauche.
Doch so gut gelaunt und freundlich wie gestern antwortet er nur: "Okay Elice, danke, dass du Bescheid gesagt hast. Dann sehen wir uns um acht in der Küche."
Das ist alles. Ich bin überrascht und erleichtert, dass er so reagiert hat und es offenbar nicht so schlimm findet.
Dennoch, so etwas wird mir nicht noch einmal passieren. Ab morgen werde ich mir einen Wecker stellen, das steht fest.
Da ich nun noch 20 Minuten Zeit habe, beschließe ich mein sporadisches Frühstück einzunehmen und ein leichtes Make-up aufzutragen, was bei mir nicht mehr bedeutet, als meine Wimpern sowie Augenbrauen nur ein bisschen zu betonen. Meine helle Haut wirkt bis auf ein paar Sommersprossen sehr ebenmäßig. Daher empfand ich es nie für notwendig mit Make-up herum zu experimentieren. Davon abgesehen hatte ich schon immer sehr wenig Zeit am Morgen, sodass ich gar nicht daran dachte noch mehr Zeit mit unwichtigen Dingen zu verschwenden. Augenbrauen hingegen sind wichtig, zumindest für mich, weshalb ich immer mindestens fünf Minuten in meiner Morgenroutine für sie einplane. Heute aber ist alles ein bisschen anders, meine Augenbrauen gelingen trotzdem. Auch wenn ich dafür nur einen kleinen Taschenspiegel zur Verfügung habe und die Sonne blendet.
Es ist Mai, doch es fühlt sich wie Juli an.

Endlich rollt die nächste Bahn ein und ich werde von einer Welle der Vorfreude und Aufregung überrollt. Vorfreude wegen des Events und Aufregung wegen.. naja wegen ihm, wegen Alex.
Sicher ist er schon da. Im Gegensatz zu mir scheint er auf keine Bahn angewiesen zu sein.
Ich suche mir wie immer einen Platz am Fenster. Als ich auf mein Smartphone schaue um die Uhrzeit zu kontrollieren, flackert die Erinnerung auf. Mein Gehirn hatte sie über Nacht offenbar verdrängt, doch dieser Sitzplatz am Fenster lässt sie wieder aufkeimen. Alex' Profil erscheint vor meinem geistigen Auge. Ich weiß immernoch nicht, wie ich damit umgehen, geschweige denn ihm begegnen soll. Als die Bahn nach zwölf Minuten an der Haltestelle des Theaters hält und ich aussteige, beschließe ich alles zu verdrängen und ihm unvoreingenommen gegenüber zu treten. Es ist egal. Ich bin hier wegen des Praktikums. Dennoch kribbelt mein Körper mit jedem Schritt stärker.
Langsam nähere ich mich dem Hauptgebäude. Wir sehen uns in der Küche, hat Steffen gesagt. Welche Küche? Soweit ich weiß, gibt es die Küche der Kantine und die alte Küche, wo sich vor dem Umbau die Kantine befand. Um sicher zu gehen steuere ich die Pforte an, um da nachzufragen. Auf der Terrasse zwischen Hauptgebäude und dem Hintergebäude mit der Pforte werden bereits Tische und Bänke aufgestellt. Dahinter befindet sich der Durchgang der beiden Gebäude, welcher zur Terrasse hin verglast und durch breite Flügeltüren geöffnet ist. Auch die Tür der Pforte ist geöffnet und ein großer "Herzlich Willkommen!" Aufsteller wurde davor platziert. Allerdings sitzt niemand am Empfang. Um nicht gleich wieder in Panik zu verfallen, gehe ich zurück zur Terrasse und beschließe hier jemanden zu fragen.
Ich steuere auf eine junge, interessant aussehende Frau zu, als ich plötzlich Anna entdecke. Sie kommt die Treppe aus dem Hauptgebäude hinunter und gibt einem Mitarbeiter die Anweisung alle Tische symmetrisch aufzustellen. Aus irgendeinem Grund habe ich Skrupel sie anzusprechen und steuere schnell auf die Flügeltür des Durchgangs zu, um zu wirken als wüsste ich, wohin ich will. Innen angekommen nehme ich ein herbes Männerparfüm wahr.
Alex.
Ich lasse den Blick durch den Raum schweifen, doch kann ihn nicht finden. Der Raum ist nicht sehr groß. Eine vierseitige, verwinkelte Küche befindet sich im linken Teil des Durchgangs, rechts daneben ein paar Sessel und ein Bildschirm, der Zeiten für S-Bahn Linien anzeigt. Vor der Küche führt eine Treppe hinunter, eine weitere Treppe nach oben, in das Hauptgebäude und in eine offene Etage über der Küche, in der ebenfalls Sessel stehen.
Plötzlich tritt Alex mit einer Schale Erdbeeren aus einer verdeckten Ecke hervor. Ich erschrecke, woraufhin er mich mit seinem Blick fixiert und mich mit zusammengezogenen Augenbrauen ansieht.
"Hi", gibt er schließlich von sich.
"Hallo", gebe ich zurück und atme tief ein, bevor ich weitergehe und meine Tasche abstelle.
Alles ist gut, es wird nichts passieren.
"Das Obst muss gewaschen, geschnitten und auf Tabletts verteilt werden", weist er mich ein.
Ein fertiges Tablett steht bereits auf einer stahlenen Arbeitsplatte. Er hat eindeutig nicht damit gerechnet alleine anzufangen. Das Obst ist viel mehr gestapelt als schön angeordnet. Ich muss lächeln und merke wie die Anspannung ein wenig von mir abfällt. Es fühlt sich gut an. Während ich die Äpfel wasche, merke ich allerdings wie mein Unterbewusstsein mal wieder beginnt mir ins Gewissen zu reden.

So einfach ist es nicht, Elice.
Was wäre, wenn du dich jetzt vor ihm übergeben müsstest?
Wie peinlich. Eure Zukunft wäre gestorben.
Was soll er denn dann nur von dir denken?
Er würde dich anstarren. Alle starren dich an.
Sie lachen. Jeder erinnert sich an dich.
Jeder normale Mensch schafft es zur Toilette, nur du nicht.
Du bist nicht normal. Elice.
Nichts davon ist normal.
Du wirst nie ein normales Leben führen können. Du schaffst es nicht, bist nicht stark genug.
Du würdest ihn nur behindern.

Ich starre eine Weile auf die Äpfel in der Spüle, bevor ich das Wasser abstelle und sie herausnehme.
Wir haben keine Zukunft zusammen.
Es spielt keine Rolle.
Ich schiebe die Gedanken beiseite und kehre trotz Übelkeit zu ihm an die Arbeitsplatte zurück. Er schneidet mittlerweile eine Wassermelone und gibt sich sichtlich mehr Mühe diese schöner zu stapeln.
"Warum bist du so spät?", fragt er nach einer Weile. Offenbar hat ihm niemand Bescheid gegeben.
Der Unterton seiner Stimme wirkt kühl.
"Ich hatte meine Bahn verpasst und musste die nächste nehmen."
Er nickt stumm.
Seine Aura gleicht einem Eissturm. Ich kann ihn praktisch laut denken hören, aber kann ihn auch nicht fragen, was los ist. Wir kennen uns praktisch nicht.
"Hat Steffen dir nichts gesagt?"
"Er war nicht hier."
Seine Worte zerschneiden die Luft und machen deutlich, dass das Gespräch beendet ist.
Ich wende mich meinen Äpfeln zu. Er scheint einfach nicht gut gelaunt zu sein.

Wahrscheinlich lief sein Date nicht gut gestern, erinnert mich meine innere Stimme an die neu gewonnene, verdrängte Erkenntnis der Sex-Gruppen.
Dennoch verstehe ich nicht, warum er mir gegenüber plötzlich wieder so kalt ist. Ich konnte noch nie wirklich gut damit umgehen, wenn mich jemand abweisend behandelte. Das Gefühl verstoßen worden zu sein, bringt mich einfach um. Es erinnert mich an jene Zeit, in der ich allein und noch schwächer war.
Ich spüre, wie die Angst in mir aufsteigt. Situationen wie diese lösen solchen Stress in mir aus, dass ich grundlos anfangen könnte zu weinen.
Elice, verdammt, es ist doch nichts.
Er ist einfach so.
Nimm es nicht persönlich.
Versuche ich mich selbst zu ermahnen.
Aber genau das mache ich. Ich nehme es immer persönlich.
Noch eine Charakterschwäche von mir.
Ich könnte mich selbst dafür schlagen. Für die Angst, dafür, dass ich immer alles zerdenke und es komplizierter mache, als es vielleicht ist.
In diesem Moment kommt Steffen durch die Flügeltür herein. Er strahlt, gut gelaunt wie immer und wünscht uns einen guten Morgen.
"Schön, dass du da bist", wendet er sich an mich. Wenigstens einer, der das so sieht.
"Alex, darf ich dich kurz entführen? Der Kuchen muss geholt werden."
Alex sieht ihn wie aufgeschreckt an, dann fängt er sich und scheint bemüht wenigstens ein bisschen authentisch zu lächeln. Was ist nur los mit ihm?
"Meinst du, dass du das ohne mich schaffst?", neckt er mich. Seine Stimme wirkt jetzt viel sanfter und freundlicher.
"Nein, auf keinen Fall!" Ein bisschen Sarkasmus hat auch er verdient.
Er muss wirklich grinsen und ein Grübchen bildet sich auf seiner Wange ab.
"Okay, ich hab Vertrauen in dich, dass du das schaffst. Ich bin dann gleich wieder da." Er zwinkert mir zu und ich spüre seine Hand auf meinem Rücken, geradewegs über dem Verschluss meines BHs.
Ein kurzes Kribbeln jagt durch meinen Körper. Sofort ist all die Kälte verschwunden.
Er ist unberechenbar.
Sicher sollte es nur eine ermutigende Geste für das Schneiden des Obstes sein, doch er setzt jede kleine "Geste" so gezielt ein, dass ich langsam an deren Zufälligkeit zweifele.
Ich schaue ihnen nach, als sie durch die Flügeltür verschwinden und ertappe mich selbst dabei, wie ich Alex' Körper mustere und an seinem Hintern hängen bleibe.
Elice..!?
Der Engel auf meiner Schulter könnte nur ungläubig den Kopf schütteln.
Schnell wende ich den Blick ab und beschäftige mich wieder mit dem Obst.

Ich muss meine Angst in den Griff bekommen. Ich möchte endlich leben und nicht mehr von dieser Stimme in mir regiert werden, die mich von der Leichtigkeit abhält.
Ich kann es schaffen, schreit die Motivation in mir und ich hoffe sie hält länger an.

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