Prolog

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Das Krachen der Tür riss den kleinen Jungen aus seinem traumlosen Schlaf. So schnell er mit seinen dünnen Beinen konnte, rappelte er sich auf und schob den Vorhang zur Seite, der sein Schlafzimmer und das seines Bruders vom Rest des Hauses abtrennte. Sich den Schlaf aus den Augen reibend bemerkte er, dass seine Eltern und sein Bruder bereits auf den Beinen waren.

Dann erblickte er die Männer.

Männer, mit komplett vermummten Gesichtern. Männer, die dunkle Kapuzenumhänge trugen. Männer, mit messerscharfen Langschwertern in den Händen. Männer, die seine bestialisch schreiende Schwester zwischen ihren mit dicken Lederhandschuhen bedeckten Pranken hielten.

Mit aller Kraft versuchte sich das noch viel zu junge Mädchen, sie hatte gerade ihre erste Monatsregel bekommen, aus ihrem festen Griff zu lösen. Aber gegen die dicken Muskeln, die der Junge sogar noch durch die langen Umhänge klar erkennen konnte, hatte sie keine Chance.

Vier weitere Männer, ebenfalls in den Farben der Nacht gekleidet, hielten seine Familie davon ab seiner Schwester zu helfen.

Einer von ihnen presste seine Mutter mit einer solchen Wucht gegen die Wand, dass ihr unaufhaltsam das Blut aus der Nase rann und sie sich mit aller Kraft gegen das Holz stemmen musste, um nicht von dem Mann erdrückt zu werden. Mit weit aufgerissenen Augen schnappte sie nach Luft und schrie immer wieder den Namen ihrer Tochter.

Ein weiterer hielt den Bruder des Jungen, der kurz davor stand die Schwelle des Mannesalters zu übertreten, ein mattschwarzes Messer an die Kehle. Blut floss bereits an seinem Hals hinab, weil er diesen, vor Wut und Hass angespannt, gegen die tödliche Scheide drückte.

Zwei weitere Männer waren notwendig, um seinen Vater in Zaum zu halten, der zum Teufel höchstpersönlich mutiert war. Die Männer mussten ihn mit aller Kraft gegen die Wand drücken, so sehr setzte er sich zur Wehr. Er riss seine Arme und Beine hin und her, schrie wie am Spieß, verfluchte und beschimpfte die Männer und spuckte ihnen immer und immer wieder ins Gesicht. Seine Augen waren vor Zorn bereits rot angelaufen, Adern waren darin geplatzt und sein gesamtes Gesicht war mit Speichel verschmiert. Aber auch er hatte keine Chance gegen sie.

Seine Schwester schrie so laut, dass der kleine Junge sich seine Ohren zuhalten musste. Für ihn hörte es sich so an, als würde man ihr ihre Haut bei lebendigem Leibe vom Kopf reißen. Ihre Schreie wurden immer lauter und dringlicher. Die Angst in ihren Augen trieb dem Jungen Tränen in seine eigenen.

Als sie das Mädchen problemlos hochhoben, wie als wäre sie leichter als eine Feder, machte sich der kleine Junge vor Angst in die Hose. Er verstand nicht, was er gerade sah. Verstand nicht, was gerade geschah.

Seine Schwester brüllte um Hilfe, blickte ihrem kleinen Bruder, mit dem sie abends immer eine Partei Steineschieben spielte und ihn stets gewinnen ließ, weil sie das Leuchten in seinen Augen so gerne sah, flehend in die Augen.

Durch den Tränenschleier, der seine Sicht fast komplett verdeckte, erkannte er ihre Not. Und die Panik, die ihre Augen befallen hatte. Obwohl er nicht einmal zehn Jahr alt war, obwohl er nicht einmal ansatzweise verstand, wer diese Männer waren, warum sie seine Schwester zwischen den Händen gepackt hielten und warum alle so unsagbar laut schrien, machte er in seiner nassen Hose einen Schritt in den Raum hinein. Streckte seine Hand nach seiner Schwester aus.

Um ihr zu helfen.

Seine kleinen nackten Zehen berührten den eiskalten Holzfußboden. Er wisperte ihren Namen, wollte ihr zeigen, dass er kommen und ihr helfen würde. Er machte einen weiteren Schritt. Und wurde mit voller Wucht zurück in den Raum hinter sich getreten.

Er knallte mit seinem winzigen Hinterkopf auf dem Boden auf, Blut platzte aus einer Wunde hervor und Schmerz durchzuckte ihn wie ein Donnerblitz die Nacht. Sein Blick verschwamm und ihm wurde Schwarz vor Augen. In seinen Ohren piepte es, bevor er anfing zu weinen. Irgendwo in der Ferne schrie seine Mutter seinen Namen.

Der kleine Junge sah nicht mehr, wie die Männer das Mädchen in einen großen kutschenähnlichen Karren zerrten, der mit dicken Metallstreben versehen war. Andere Mädchen aus dem Dorf befanden sich bereits in ihm und auf dem Kutschbock saßen noch zwei weitere Männer - ebenfalls in den Farben der Nacht gekleidet.

Vor den Karren waren zwei pechschwarze Pferde gespannt, durch deren Nüstern Atemwolken in die eiskalte, mit Nebel verhangene Nacht schlugen. Wild warfen sie ihre Köpfe hin und her. Jeder Knochen ihrer Körper ragte dabei spitzer als die Langschwerter der Männer unter der dünnen Haut hervor. Mit ihren mächtigen Hufen traten sie immer wieder auf dem schlammigen Boden auf, bevor sich der Karren in Bewegung setzte und das Mädchen für immer von ihrer Familie fortriss.

Der kleine Junge, dessen Körper bitterlich in der erbarmungslosen Kälte zitterte und der heftig von Heulkrämpfen geschüttelt wurde, ahnte nicht, dass diese Nacht, die begonnen hatte wie jede andere, der Anfang des Endes sein würde. Dass seine Familie in dieser Nacht zerbrechen und sich nie wieder zusammenfinden würde.

Der Junge ahnte nicht, dass sich etwas in ihm regte. Ferner allen Hasses und Zorns, den er in Gedenken an diese Nacht verspüren sollte. Kräftiger, als die Muskeln der Männer, die seine Familie so brutal auseinandergerissen hatten.

So mächtig, dass es jegliche Vorstellungskraft überschreiten sollte.

Wooden Shadows - Callum Cadena Chronicles #1Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt