Callum
Der Tag an dem sich Callum Cadenas Leben für immer verändern sollte, stank nach Tod und Verwesung. Versteckt hinter einem kahlen Busch, lag er auf dem feuchten Waldboden, die rechte Hand auf einer kleinen Anhöhe gelehnt. Ganz langsam zog er die Sehne des Bogens an seinen linken Nasenflügel und atmete ein. Kein einziger Ton kam dabei über seine Lippen.
Sein Opfer hatte nicht die leiseste Ahnung, dass er ihm in wenigen Sekunden sein Auge durchpfählen würde. Vielleicht schoss er ihm auch ins Herz — Callum hatte sich noch nicht entschieden.
So oder so, heute würde Blut fließen.
Vorsichtig winkelte er seinen Arm etwas an, sodass die Spitze des Pfeils perfekt auf sein Opfer gerichtet war. Es hatte keine Chance. Callum atmete aus und ließ los. Der Pfeil segelte blitzschnell durch die Luft, verfehlte sein Ziel um mehrere Zentimeter und rammte sich in einen der abgestorbenen Baumstämme daneben.
»Verdammt.«
Vier Stunden. Vier götterverdammte Stunden hatte er auf diesem kalten, feuchten, piksenden Waldboden gelegen. Und wofür? Kein Sterbenswörtchen hatte er von sich gegeben - hatte so getan, als wäre er tot. Vielleicht war er das mittlerweile auch schon. Irgendwie.
»Verdammte Scheiße.«
Er konnte noch das Rascheln des wegspringenden Bockes wahrnehmen, der durch das Gestrüpp des Waldes davonsprang. Callum schloss seine Augen. Er wusste, was ihm bevorstand.
Wusste, dass aus seinem kleinen Traum nichts werden würde. Dem Traum, heute Nacht ohne mit einem nach Hunger schreienden Magen ins Bett zu gehen. Ohne einen weiteren Tag überleben zu müssen und zu hoffen, dass er am nächsten Morgen genug Kraft aufbringen würde können, um sich erneut auf die Jagd zu begeben. Nur um dann festzustellen, dass er wieder kein Tier schießen würde.
Er öffnete seine Augen und ließ seiner Frustration freien Lauf. Schmiss seinen Bogen mit aller Kraft in den Wald und pfefferte den Köcher mitsamt dem noch immer fast vollständigem Set an Pfeilen hinterher. Er verfluchte den ausgedörrten Wald und all die Tiere, die noch in ihm lebten. Danach sackte Callum auf dem Boden zusammen. Er war einfach kein Jäger und er würde auch nie einer sein.
Er war von diesem Rehbock abhängig gewesen. Diesmal hatte er wirklich gedacht, er würde endlich einen erlegen. Wohl oder übel musste er heute Abend wieder mit nichts außer Wurzeln und Brennnesseltee im Magen ins Bett steigen. Außer ... Außer er verkaufte diesen nutzlosen Bogen einschließlich seiner noch nutzloseren Pfeile. Damit umgehen konnte er sowieso nicht und es zu lernen würde zu viel Zeit in Anspruch nehmen.
Zeit, die er nicht hatte. Nicht mehr.
»Irgendjemanden werde ich wohl finden, der entweder verzweifelt oder bescheuert genug ist, sich mit diesem Teufelsgerät zu versuchen«, murmelte er leise vor sich hin, während er sich hochstemmte um Pfeil, Bogen und Köcher wieder aufzusammeln.
Das Erste was er bemerkte, war die lange Schnur die sich an einem kleinen Zweig verfangen hatte. Callum wusste es, bevor sich die Erkenntnis in seinem Kopf verfestigen konnte. »Nein nein nein! Bitte bitte nicht«, flehte er und lief zu dem Busch, in dem der Bogen gelandet war. Einem Dornenbusch, wie er durch den plötzlich stechenden Schmerz erkennen musste, als er dummerweise mit den Händen hineingriff, ohne vorher nachzuschauen.
Aber das war nicht schlimm. Er war Schlimmeres gewohnt. Weitaus Schlimmeres.
Er zuckte nicht einmal zurück, als ihm die Dornen die Haut aufrissen. »Eine gerissene Sehne kann ich reparieren, das krieg ich hin«, versuchte er sich selber Mut zuzusprechen. Als er endlich den Griff des Bogens zu fassen bekam und seine Hände aus dem Gestrüpp befreien konnte, war das Blut seiner Wunden bereits am Holz des Bogens angekommen. »Warum immer ich? Wieso nie die anderen?«
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Wooden Shadows - Callum Cadena Chronicles #1
Fantasy"Wenn das der Beginn seiner Reise war - wie würde dann erst das Ende aussehen?" Nach dem Tod seiner Mutter bleibt dem Waisenjungen Callum Cadena nichts außer Hunger und Angst. Seine letzte Chance dem Tod zu entfliehen, sieht er im Aufruf der Kaiseri...