Kapitel 2

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Callum

Das Erste, dass Callum am nächsten Morgen wahrnahm, war der Schmerz. Egal was er tat - ob er aß, sich badete oder einfach teilnahmslos auf einem matschigen Waldboden herumlag, ein unterschwelliges Schmerzgefühl war immer präsent.

Er konnte nicht mal wirklich sagen, woran es lag. Ob es die Wunden waren, die einfach nicht verheilen wollten, wie beispielsweise die an seinen Händen, die immer wieder aufrissen, sobald er auch nur darüberstrich, ob es die Schmerzen seines Fußes waren, nachdem er vor gut einer Woche an der Türschwelle umgeknickt war oder ob es nur der verzweifelte Schrei seines Magens nach etwas Essbarem war.

Schmerzen gehörten mittlerweile zu seinem alltäglichen Leben dazu.

Er hatte gelernt damit zu leben. Denn er wusste, die Chancen aus diesem Loch herauszukommen, standen gegen Null. Das einzige, was ihn sein Leid ertragen ließ, war die Hoffnung etwas Essbares im Wald zu erlegen. Jeden Tag auf's Neue hoffte er und jeden Tag auf's Neue zerschellte diese Hoffnung in tausend Teile, nur um sich am nächsten Morgen wieder trügerisch zusammenzusetzen.

Die Teiche, Seen und Flüsse in erreichbarer Nähe waren seit Monaten überfischt, das Ackerland war so unfruchtbar wie eine alte Greisin, sodass nicht einmal die kleinsten Pflanzen auf ihr gedeihen konnten.

Eine Viehzucht war ebenso undenkbar. Davon abgesehen, dass man die Tiere nicht einmal ernähren könnte, sie würden innerhalb weniger Tage gestohlen werden, ganz gleich ob sie fett genug waren oder nicht. Es gab immer jemanden, der ein kleines bisschen hungriger war. Gieriger. Jemanden, dem dieses kleine Bisschen ausreichte.

Die Menschen waren mittlerweile so verzweifelt, dass Nächstenliebe nicht mehr infrage kam. Jeder von ihnen kämpfte ums Überleben. Jeden Tag aufs Neue. Teilen war ein Fremdwort.

Fallen aufstellen, konnte er nicht - hatte es nie gelernt. Er hatte es oft versucht und nie Erfolg gehabt, bis er es schließlich aufgegeben hatte. Genau wie das Jagen mittlerweile. Irgendwie an Geld zu kommen, um sich Essen zu kaufen, konnte er ebenfalls vergessen. Er besaß so wenig, wenn er jetzt aufbrechen und nie wiederkommen würde, würde ihm fast nichts davon fehlen.

Es war ausweglos.

Er hatte seit Wochen versucht das Positive an jeder Situation zu sehen. Hatte versucht nicht aufzugeben. Seinem Versprechen an seine Mutter gerecht zu werden. Doch heute erreichte er einen neuen Punkt des Schmerzempfindens.

Einen Tiefpunkt, der ihn Schmerz neu definieren ließ.

Das Gefühl, das sich von seinem Magen aus über seinen gesamten Körper ausbreitete, überwältigte ihn. Er konnte sich auf nichts anderes mehr konzentrieren, konnte nur noch ans Essen denken. Ihm war unsagbar schlecht und gleichzeitig gierte sein Magen nach Nahrung.

Es brachte ihn um.

Er fühlte sich wie gelähmt. Gefangen in seinem eigenen Körper. In den Wald zu gehen, um zu jagen, alleine aufzustehen ... Die Vorstellung, dass er das gestern tatsächlich noch geschafft hatte, schien ihm wie ein Ammenmärchen. Sein Blick fiel auf den Krug neben seinem Bett.

Wasser. Er brauchte Wasser. Das würde das Schreien seines Magens fürs erste Stillen. Callum konnte seine Augen nicht von dem Krug abwenden, wollte dieses Wasser unbedingt trinken, doch seinen Arm dazu zu bewegen sich den Krug zu greifen, schien wie eine unlösbare Aufgabe. Er konnte es nicht. Konnte sich nicht dazu aufraffen sich aufzusetzen und gegen den Schmerz anzukämpfen. Also gab er auf.

Im nächsten Moment platzte sein Magen.

Er übergab sich neben sein Kopfkissen auf seinen viel zu kleinen Schlafplatz. Bis auf ein wenig Wasser und ein mickriges Häufchen, das wohl das Brot von gestern war, würgte er nur ätzende Galle hoch, die sich ihren Weg durch seinen Mund und durch seine Nase bahnte.

Er hasste sein Leben.

Tränen schossen ihm in die Augen, vernebelten seinen sowieso schon schummerigen Blick. Die Luft, die er gierig einsog, schmeckte nach Magensäure. Er wäre am liebsten in genau diesem Moment gestorben. Es wäre ein Segen gewesen.

Doch etwas hielt ihn davon ab. Etwas das in ihm schlummerte - vielleicht war es der Überlebensinstinkt, vielleicht eine innere Stimme oder eine Kraft, von der er bis heute nichts geahnt hatte. Vielleicht war es aber auch der Geist seiner Mutter, der ihm schützend die Hand über seine schweißnasse Stirn legte. Callum schloss die Augen und ließ sich sanft von den Klängen des Schmerzes in den Schlaf wiegen.

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Am nächsten Morgen wachte er mit nasser Kleidung auf. Der beißende Gestank seines Erbrochenen stieg ihm in die Nase und er musste sich zusammenreißen, um sich nicht direkt noch mal zu übergeben. Als wäre er dazu überhaupt in der Lage.

Die Erkenntnis, dass es so nicht weitergehen konnte, verscheuchte seine morgendliche Benommenheit. Wie als Bestätigung darauf grummelte sein Magen und er fühlte ein starkes Ziehen im Bauch. Zögerlich richtete er sich auf und trank den Krug neben seinem Bett mit einem großen Schluck leer. Immerhin mangelt es nicht an Wasser.

Zumindest etwas.

Callum zwang sich aufzustehen und begab sich in die kleine Küche. Obwohl er wusste, dass er hier bis auf Wurzeln und trockene Brennnesseln nichts Essbares finden würde, durchsuchte er alle Schränke und schaute unter der alten Kommode nach, die von Motten und Insekten schon so zerfressen war, dass es ihn wunderte sie überhaupt noch stehen zu sehen. Eine Wohnstube gab es keine. In die anderen Zimmer ging er nicht.

Nicht mehr.

Also wieder in den Wald, flüsterte eine Stimme in seinem Kopf. Er könnte auf der Stelle anfangen zu heulen. Er hatte einfach keine Kraft mehr sich einen weiteren Tag auf dem Waldboden wund zu liegen und am Ende des Tages trotzdem ohne Beute nach Hause zu kommen. Callum wusste, er würde nicht noch einen solchen Tag schaffen. Wer wusste schon, ob er sich morgen überhaupt noch bewegen konnte? Es fiel ihm jetzt schon so unglaublich schwer. Er hatte seit vier Tagen nichts Richtiges mehr gegessen. Zu lange, viel zu lange.

Callum setzte sich auf den wackeligen Stuhl an den kleinen Tisch, der ihm eigentlich für nichts mehr nützte. Langsam schob er sich eine harte Wurzel in den Mund, legte den Kopf in den Nacken und starrte an die Decke. Er musste etwas ändern. Musste sich etwas einfallen lassen. Und zwar jetzt. Er wägte seine Möglichkeiten ab.

»Verkauf dich«, schrie eine viel zu grelle Stimme in seinem Schädel, die seit Wochen immer lauter wurde. Er wusste, dass Frauen keine Männer nahmen. Sie waren froh genug, wenn man sie nicht eines Nachts in einer dunklen Ecke selber nahm. Ungewollt. Da würden sie dafür nicht auch noch wertvolle Münzen ausgeben.

Die einzigen, die die Dienste eines Strichers in Anspruch nahmen, und sei es nur für ein paar Stunden, waren Männer. Männer nahmen Männer. Oder Jungen, je nachdem was der Markt anbot. Wer sich anbot. Oder angeboten wurde. Doch bei dem bloßen Gedanken an das, was ihm dann bevorstand, zog sich alles in ihm zusammen. Das konnte er nicht. Niemals.

»Vorher sterbe ich lieber, hungrig aber ungeschändet«, flüsterte er.

Als Bediensteter zu arbeiten, kam ebenfalls nicht infrage. In seinem Dorf dachte man nicht einmal daran, sich so etwas wie einen Diener zu kaufen und auch die Dörfer um Kenkstett herum waren viel zu klein, als dass er dort sein Glück überhaupt versuchen brauchte. Diener gab es nur in den reichen Dörfern rund um und im kaiserlichen Palast. Glaubte er zumindest. Er war nie da gewesen, hatte noch nie dieses Drecksloch verlassen.

Zu den größeren Dörfern müsste er reisen. Da er kein Pferd besaß, geschweige denn reiten konnte, würde das Wochen in Anspruch nehmen. In seiner Verfassung wahrscheinlich Monate.

Zeit, die er nicht hatte.

Sein Blick fiel auf die kleine Pfeilspitze, die er gestern Abend noch auf den Tisch gelegt hatte. Er starrte sie ein paar Sekunden an. Seine Stirn zog sich kraus.

Und dann durchzuckte es ihn wie ein Blitz.

Wooden Shadows - Callum Cadena Chronicles #1Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt