Mein Schritt war immer noch schnell, als Ich mich in Richtung Westen begab, in die Nähe der Häfen, doch diesmal nur, weil Ich Kuun nicht allzu lange warten lassen wollte. Er war es zwar gewohnt und schien sich nicht mehr gross daran zu stören, aber ein winziger Teil von mir freute sich bei dem Gedanken, ihn wieder zu sehen. Ein freundliches Gesicht dem Ich vertrauen konnte, war genau was Ich brauchte, um zurück zur „Normalität“ zu finden.
Kuun gehörte zu meinem Alltag wie das Element zum Bändiger. Er war eine der wenigen Konstanten in meinem Leben – und der einzige Mensch, dem Ich halbwegs vertraute. Oder wenigstens war er der Einzige, jetzt, nachdem Techi verschwunden war. Techi... Bereits zum zweiten Mal an diesem Tage schüttelte Ich den Gedanken an ihn ab, was mir heute noch schwerer fiel als sonst, da die Begegnung mit dem Avatar meine Selbstdisziplin ziemlich durcheinander gebracht hatte. Nur mit erheblicher Mühe gelang es mir, meine Gedanken ins hier und jetzt zu richten und mich auf das zu fokussieren, was vor mir lag, weswegen Ich in dem Versuch, meinen Kopf zu beruhigen, krampfhaft an Kuun dachte, und daran, ob er genug eingenommen hatte, um uns diese Woche eine doppelte Mahlzeit zu gönnen.
Ein paar Stunden vor meinem üblichen Rundgang durch die Stadt hatte Ich ihn mit einem Korb voll frischer Meeresfrüchte losgeschickt, damit er sie an Narook, den alten – und geizigen - Nudelrestaurant-Besitzer, für ein paar Yuans verkaufen konnte. Es war der einzige Weg an Geld zu kommen, ohne zu stehlen. Ich jagte und sammelte an einigen bestimmten Tagen und meistens brachte Kuun meinen Fang dann zum Käufer, woraufhin wir uns den Erlös teilten.
Es war nicht viel, reichte aber meistens für eine bescheidene Mahlzeit am Tag, manchmal sogar für zwei. Doch da Ich in der letzten Woche noch mehr als üblich damit beschäftigt gewesen war, mich so gut wie möglich über die Geschäfte der Triaden zu informieren, hatte Ich nur wenig Zeit mit dem Gedanken an Essen oder Geld verschwendet, weswegen mir aber nun der Magen knurrte. Erst letzten Abend war mir endlich in den Sinn gekommen, dass es Zeit wäre für eine Jagd, wenn Ich nicht verhungern wollte, woraufhin Ich nach einer langen Nacht mit einer ziemlich vorzeigbaren Menge an Fisch, grünen Geich-Algen, und was eben sonst so alles essbare im Wasser schwimmt und fleucht, zurückkehrte. Wenn Kuun sich beim Verhandeln hartnäckig gezeigt hatte, würden wir uns wieder eine Weile über Wasser halten können. Und mein Magen würde sich nicht mehr so schrecklich ausgebrannt anfühlen.
Wie als Zustimmung ertönte ein tiefes Grummeln, was meinen Blick während des Laufs unweigerlich auf meinen Bauch zog, den Ich fälschlicherweise als Verursacher dieses Geräusches hielt. Es vergingen einige Sekunden, bevor Ich mitten im Schritt erstarrte und mit einem überraschten Ausdruck im Gesicht herumwirbelte.
„Komm her, kleines Biest!“
Kaum hatte Ich den Kosenamen ausgesprochen, enthüllte der Schatten einer Gassenmauer eine kleine vierbeinige Gestalt, die mit einem grossen Satz auf mich zugesprungen kam, auf meiner Schulter landete und ihren struppigen Kopf zutraulich an meiner Kapuze rieb.
„Das hat lange gedauert, bis Ich dich bemerkt habe, was?“, murmelte Ich leise, während meine Hand liebevoll über die knochigen Schultern fuhr, woraufhin mich zwei gelbe Augen aus dem schwarzen Fell heraus an funkelten, als wollten sie sagen: „Ja, wirklich. Wie kann man nur so unaufmerksam sein?“
„Ich weiss, Ich weiss.“
Ein schwerer Seufzer entwich meiner Kehle, bei dem Gedanken, dass mich die Ereignisse stärker aus der Bahn geworfen hatten, als gedacht – so stark dass Ich nicht einmal meine treue Gefährtin sofort wiedererkannt hatte. Nach so vielen Jahren schien normalerweise ihre blosse Anwesenheit spürbar zu sein, auch wenn Ich zugeben musste, dass sie eine Meisterin der Tarnung war, wie es nie ein Mensch sein würde. Selbst Ich hatte manchmal Mühe, sie zu sehen, wenn sie sich entschied zu verschwinden – und Ich hatte mehr als genug Zeit gehabt, sie in und auswendig kennenzulernen. Immerhin hatte sie zum Teil Schattenräuber-Blut in sich, und hatte mir viele ihrer Tricks durchs unzählige Vormachen beigebracht, darunter derjenige, dem Ich nun meinen gefürchtetsten Namen verdankte. Wie auf Knopfdruck im Schatten zu verschwinden hatte das Gerücht in Umlauf gebracht, Ich könne mich verwandeln oder wäre gar die Dunkelheit, genauer, der Schatten, in Person.
An und für sich war dieser Glaube lächerlich, doch mich amüsierte es beinahe so sehr, wie mir die daraus entstehende Ehrfurcht gefiel. Mein Strassenname war in vieler Munde, und wurde so gut wie immer mit einem gewissen Respekt in der Stimme ausgesprochen, sei es nun vor mir, meinem Ruf oder der blossen Tatsache, dass sich bis jetzt noch kaum einer eingefunden hatte, der in der Lage war, sich ernsthaft gegen mich zu behaupten.
Ein leichtes Zwacken an meinem Ohr lenkte meine Aufmerksamkeit wieder auf das kleine Geschöpf, welches geschickt auf meiner Schulter balancierte und mich mit seinen Zähnen sanft zurück in die Gegenwart geholt hatte. Tiefe Zuneigung, wie Ich sie nur bei ihr spürte, durchströmte mich, als Ich den Schalk in ihren mandelförmigen Augen blitzen sah. Seit dem Tag, an dem Ich sie in einem feuchten Karton gefunden hatte, halb verhungert und erfroren, doch sich verteidigend bis zum letzten Atemzug, hatte sich zwischen uns eine tiefe Verbundenheit entwickelt, wie Ich sie nie für möglich gehalten hätte.
Eneryn, wie Ich sie als ein paar Wochen altes Kätzchen getauft hatte, war meine einzige Freundin, meine einzige Verbündete, eine der Konstanten in meinem Leben, und so seltsam das auch scheinen mag, zog Ich ihre Gesellschaft jederzeit der eines Menschen vor. Verlässlichkeit und Mut, sowie eine gewisse Schärfe in ihrem Charakter, machten sie zu meiner unverzichtbaren Gefährtin, die immer an meiner Seite stand – was auch ihr den gebührenden Ruf einbrachte. Ihr Auftreten verhiess selten etwas gutes, und oftmals bekam man ihre Krallen zu spüren, wenn ihr etwas nicht gefiel, weswegen man sie kurz „Das Biest“ nannte. Ein sehr treffender Name.
„Komm, wir müssen weiter.“
Mit diesen Worten lüftete Ich mein graues Hemd am Ausschnitt einen Spalt breit, und enthüllte damit die Brustbandagen, um Eneryn an ihren angestammten Platz schlüpfen zu lassen, wo Ich sie öfters mit mir herum trug, da sie sich dort, seltsamerweise, sehr wohl zu fühlen schien und es eine praktische Art war, sie unbemerkt bei mir zu haben – der Umhang verbarg äusserst gut die skurrile Form meiner Kleidung, wenn sie sich an mich presste. Doch an diesem Tag zuckte sie nur mit dem gespaltenen Ohr, bevor sie mit unruhigem Schwanz zu Boden sprang und mir dann zielsicher voraus marschierte, als wüsste sie genau wohin.
Schnellen Schrittes folgte Ich der Schattenräuberin.

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Der Schatten
FanfictionIch lebte bereits seit langer Zeit in Republika. Seit meiner Geburt, um genauer zu sein. Doch mein Leben spielte sich nicht in den hohen Häusern ab. Ich war ein Kind der Strasse, wie so viele in der grossen Stadt. Das Leben, das Ich wählte, war hart...