Kapitel 8 ~ Die Prinzessin der Tiefsee

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Mit zitternden Fingern löste ich ein weiteres Blatt Minze vom Stängel und legte es zu den restlichen Kräutern in meinen Korb. Wieder einmal fühlte ich mich abgestumpft und totengleich. Es waren drei Wochen vergangen seit jedem verhängnisvollen Tag und es hatte sich nicht wirklich etwas geändert. Manchmal hatte ich Glück und konnte den Unterricht ohne Unterbrechungen durchziehen, aber sobald Cardan ein Thema zu langweilig wurde endete es in mindestens einem Kuss. Ich küsste ihn nie zurück, zumindest so stark war ich noch, aber das schien ihm nie etwas auszumachen. Es irritierte mich tatsächlich hin und wieder, dass er scheinbar vergessen hatte, dass er mir schlichtweg befehlen könnte, es zu tun. Jedenfalls machte er es nie. An manchen dieser Tage konnte ich den Unterricht danach einfach weiterführen. Ich hatte mit niemandem darüber gesprochen. Nicht mit Pandora, nicht mit Jude, nicht mit Oriana oder meinem Vater. Bis auf letzteren hätten sie mir sowieso nicht helfen können und ich wollte niemanden in meine Probleme hineinziehen. In manchen Nächten fragte ich mich, ob Cardan es irgendwem erzählt hatte. Wenn ja, dann war es dieser Person höchstwahrscheinlich egal, denn niemand verhielt sich mir gegenüber anders als zuvor. Oder vielleicht merkte ich es einfach nicht. „Hey."

Ein Schatten fiel über mich und ich hob langsam den Kopf. Prinzessin Nicasia stand neben mir und sah arrogant auf mich herab. Ihre Haare fielen wie immer perfekt herab und sie hielt den Rock ihres meergrünen Kleides hoch, damit er nicht schmutzig wurde. Ich hielt in meiner Tätigkeit inne. „Kann ich helfen, Prinzessin?" Ihr Blick sagte mir deutlich, dass es ihr helfen würde, wenn ich verschwinden würde. „Hast du Cardan gesehen?" Ich schüttelte den Kopf.

„Nein, unser Unterricht beginnt erst in zwei Stunden." Ihre Augen wurden schmal und sie starrte mich prüfend an. Ich stand auf und tat so, als wäre nichts. „Wenn ich Euch sonst irgendwie helfen kann, fragt einfach, Prinzessin." Ihre Augen wanderten an mir herauf und herab. „Ich kenne dich doch irgendwo her." Innerlich erstarrte ich. Sie würde sich doch niemals an diese Nacht erinnern. Das konnte nicht sein. „Kennen ist ein relatives Wort."

„Doch, ich habe dich schon mal gesehen. Das war auf einem Fest." Ich stand auf, griff nach meinem Korb und klopfte etwas Staub von meinem Kleid. „Ich bin mir sicher, dass es viele Feste gab, auf denen Ihr wart, Prinzessin. Ich halte mich allerdings für gewöhnlich von großen Gruppen fern. Daher ist es sehr unwahrscheinlich, dass wir uns getroffen haben." Sie wirkte noch immer nicht überzeugt, sondern starrte mich noch intensiver an als vorher. Das letzte, was mich wohl noch schützte, waren meine Mauern. Innerhalb der vergangenen Tage hatte ich sie unaufhörlich aufrechterhalten, um mich bei jeglichen unerwarteten Treffen mit Cardan vor ihm zu verbergen. Und auch bei anderen schien es zu funktionieren. „Ich bin mir aber ganz sicher."

„Womit?" Ich fuhr zusammen. Ich war so auf Nicasia fixiert gewesen, dass ich ihn gar nicht hatte kommen sehen. Naja, er erschreckte mich aber auch jedes Mal, wenn er auftauchte. Cardan stand neben Nicasia, als wäre er gerade aus ihren Schatten herausgetreten und blickte uns kritisch an. „Was habe ich verpasst?"

„Da bist du ja! Ich hatte nach dir gesucht." Nicasias Gesicht hellte sich sichtlich auf und sie rutschte näher an ihn heran. „Ich musste was Wichtiges erledigen, entschuldige bitte." Er lächelte warm zurück. In meinem Herz spürte ich einen kleinen, seltsamen Stich. Es war faszinierend, wie er es schaffte, zwei komplett verschiedene Personen auf einmal zu sein. So fürsorglich hatte ich ihn noch nie sprechen hören. Ich versuchte, unauffällig zu verschwinden, allerdings funktionierte das nicht so gut, wie ich gehofft hatte. Zwei Paar Augen richteten sich prompt auf mich. „Cardan, bin ich die Einzige, die das Gefühl hat, Crystal schon mal gesehen zu haben?", fragte Nicasia scharf und musterte mich mit einem tödlichen Blick.

„Was meinst du? Natürlich hab ich sie schonmal gesehen. Ich seh sie jeden Tag."

„Bevor sie hierhergekommen ist. Bevor Madoc sie als seine Tochter anerkannt hat. Schon vor ein paar Jahren." Nein...das darf nicht sein. Sie können sich nicht daran erinnern...Wenn ich darüber nachdachte, wusste ich nicht einmal genau, ob Cardan in jener Nacht da gewesen war. Zumindest war er nicht beteiligt gewesen, das war mir bewusst. „Ich glaube wirklich, dass Ihr mich verwechselt."

„Nein, tu ich nicht. Da war irgendwas...mit Valerian und Locke." Zum ersten und hoffentlich auch letzten Mal dankte ich Cardan gedanklich dafür, dass ich seinetwegen eine geniale Schauspielerin geworden war. So verbarg ich die Angst.

„Ihr habt miteinander gesprochen. Da bin ich mir sicher."

„Ich habe nie ein auch nur ansatzweise längeres Gespräch mit Valerian geführt, Prinzessin. Daher ist es wahrscheinlich, dass das jemand anderes war. Wenn Ihr mich nun entschuldigt. Ich habe eine Unterrichtsstunde vorzubereiten." Mit diesen Worten machte ich einen kurzen Knicks und drehte mich um. So schnell wie ich konnte, ohne hektisch zu wirken, schritt ich aus dem Garten und in den Palast hinein. Meine Gedanken rasten mindestens so schnell wie mein Herz, während meine Maske erhalten blieb. Es konnte doch nicht sein, dass mich ein einzelner Satz so aus dem Konzept bringen konnte. Nach all den Jahren spürte ich die Wunden noch brennen, der Anhänger auf meiner bloßen Haut zerbarst fast vor Hitze. Kurz hielt ich an und holte ihn heraus. Meine Hand bebte. Die Magie wollte befreit werden, doch ich würde diese Erinnerungen nie wieder aufrufen. Allein der Gedanke an das, was in diesem schlichten Schmuckstück gefangen war, erschreckte mich. Es war unrecht.

„Crystal." Eine Hand mit langen, schmerzhaft spitzen Fingern packte mich grob an der Schulter und riss mich mit einer überraschenden Kraft herum. Innerlich zuckte ich schon wieder zusammen, doch äußerlich war ich vollkommen entspannt. „Prinzessin, gibt es noch etwas?" Ich blickte Nicasia ernst an, während ihr Blick mich bis auf die Knochen verbrennen wollte. „Ich weiß nicht, warum du hier das Unschuldslamm spielst, aber wenn du glaubst, Cardan so um den Finger zu wickeln, hast du dich gewaltig geschnitten, kapiert?" Es war fast schon lachhaft. Das, was ich am wenigsten wollte, wurde mir unterstellt. „Ich kann Euch versichern, dass das nicht meine Absicht ist, Prinzessin."

„Halt den Mund! Die anderen kannst du vielleicht dazu bringen, dir zu glauben, dass du ach so fehlerfrei und unantastbar bist, aber mich kannst du nicht einfach täuschen. Du willst Cardan für dich und ich sage dir, dass das nicht funktionieren wird." Allmählich begannen meine Mundwinkel wirklich zu zucken. Sanft nahm ich ihre Hand von meiner Schulter und blieb noch immer ernst und ruhig. „Ich möchte sogar das absolute Gegenteil. Ich will den Hochkönig in keiner Weise verführen oder dergleichen tun. Ich will nur meiner Arbeit nachgehen und Elfenheim helfen. Allerdings würde das besser laufen, wenn es keine Komplikationen geben würde."

„Das stimmt nicht! Ich habe euch gesehen!" Für eine Sekunde verlor ich meine Fassung und wurde blass. Ich hatte gedacht, dass keiner je gemerkt hatte, was vorgefallen war. Aber anscheinend hatte ich falsch gedacht. „Ich...ich kann Euch versichern, dass ich keine Sekunde davon genossen habe. Um ehrlich zu sein, verstehe ich selbst nicht, was genau da passiert ist oder warum er das getan hat. Ich will das beenden, aber ich bin nicht in der Position, um es zu tun." Nicasia ließ mich los und ging ein paar Schritte zurück. Die Tatsache, dass ich nicht die war, für die sie mich gehalten hatte, traf sie, das war mir klar. So hatte sie wenigstens ihre Wut an mir auslassen können. Jetzt musste sie zugeben, dass es nicht meine Schuld war. Es war ganz allein Cardans Schuld.

„Ich bitte Euch, Prinzessin. Ihr seid mit ihm befreundet. Redet mit ihm. Ich kann es nicht tun. Aber Ihr. Nicht meinetwegen. Sondern euretwegen. Und seinetwegen. Ich will nicht, dass er verletzt wird, weil ich zu schwach bin, um mich gegen einen Befehl zu wehren." Das war die falsche Richtung gewesen. Aus Nicasias Augen wich der kurze Schimmer von Verständnis und wurde zu Zorn. „Du glaubst wirklich, dass du mich mit diesem sentimentalen Gerede einwickeln kannst? Nicht schlecht, aber dazu braucht es schon etwas mehr. Wag es nicht, ihm näher zu kommen, egal was du behauptest. Ich wette, es gibt irgendein blödes Artefakt, mit dem du lügen kannst, richtig, oder? Glaub nicht, dass ich mich an der Nase herumführen lasse! Du wirst das schon noch zurückbekommen." Sie ging ganz nah an mich heran. Ihre spitzen Nägel krallten sich in meine Unterarme und sie zischte fast schon schlangenhaft „Hure", ehe sie mich wieder von sich wegstieß und den Gang hinabrauschte.

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