Schlag 8

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Matthew Wellington wohnt noch bei seinen Eltern. Anfang zwanzig ist das nicht sonderlich ungewöhnlich.

Ja, er hatte sein Leben anders geplant, aber wann kommt etwas schon einmal so, wie man es geplant hat?

Er arbeitet in einem kleinen Shop, in dem er hinter der Kasse auf einem ungemütlichen Hocker sitzt und wenn er nicht gerade Regale von Staub befreit, blättert er durch einen Studienführer, der schon zerknittert an den Seiten ist. Einige Seiten davon sind fast herausgerissen, auf andere ist ihm Tee oder Wasser herauf getropft. Einmal sogar Wasser aus einem Blumentopf.

Der Studienführer ist sein ständiger Begleiter. Ob bei der Arbeit oder zu Hause am Abendbrottisch: Matthew hat ihn neuerdings fast immer und überall dabei. Wenn ihm langweilig ist, blättert er orientierungslos in ihm herum, liest sich zufällige Beschreibungen durch und schüttelt dann doch den Kopf.

Den Studienführer hat ihm Miranda zukommen lassen, die nicht sonderlich unterschwellig mit ihrer Agenda war, Matthew wieder an die Universität zu schleppen. Matthew hatte sich anfangs geweigert, das Ding auch nur anzugucken, aber nach einer Woche, an einem besonders langweiligen Abend in der kleinen Vorstadt, hatte ihn seine Neugierde und sein leichter Masochismus doch dazu gebracht, durch das Magazin zu blättert.

Und seit diesem Abend hatte er nicht mehr aufhören können.

„Hast du dich entschieden?"

„Willst du wieder studieren?"

„Willst du dein Studium wieder aufnehmen?"

Das sind Sätze, die Vincent ihm andauernd stellt und manchmal - seltner - aber dann doch, sogar Matthews leiblicher Vater Albertus.

Oder neuerdings auch Al.

Matthew findet es merkwürdig, dass sein Vater einen Spitznamen hat. Nicht mal er selbst hat einen und er ist jünger.

Er nennt Albertus bei seinem Namen. Sicherlich sind sie nicht auf der Ebene für Spitznamen. Ausweichende Konversation und leichter Smalltalk, aber darüber geht seine Freundlichkeit nicht hinaus.

Matthew sitzt auch gerade mit der Stupsnase im Studienführer vergraben hinter der Kasse und fliegt mit seinen Augen über die schon so oft überblätterten Seiten.

Sein Lesen wird von der Klingel über der Tür unterbrochen.

Er schreckt auf. Eine nicht wirklich normale Reaktion, wenn man im Verkauf arbeitet, aber er kann sie nicht verhindern. Es ist einfach zu wenig los im Winter. Niemand will den Ort im Winter besuchen.

„Was machst du denn hier?", stottert Matthew panisch hervor. Wie ein Reflex schlägt er den Studienführer zu und legt seine Hände auf das Cover.

William beäugt das Schauspiel mit einem verwirrtem Grinsen.

„Hallo auch dir."

„Wieso bist du hier?", wiederholt Matthew die Frage zischend.

„Ich wollte dich abholen", antwortet William, als sei es eine alltägliche Antwort.

Früher war es das. Aber jetzt ist nicht früher.

Matthew und William sind nicht mehr Dom und Sub. Sie gehen nicht mehr Händchen haltend die Straßen entlang und haben gemeinsame Wochenenden.

Hier her zu kommen ist ein Bruch einer ihrer erst kürzlich aufgestellten Kardinalregeln, welcher Matthew wütend und paranoid macht.

Er schaut sich sofort um und starrt zur Tür. Natürlich kommt nun auch keiner in den Laden. Es wäre ein Wunder gewesen.

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