Kapitel 1

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Danielle klammerte sich an den Tisch, versuchte verzweifelt, sich zu beruhigen. Ihre blauen Augen huschten von ihren Fingerknöcheln, zu ihrem Spiegelbild. Das lange Haar warf dicke Wellen, reichte ihr bis unter die Taille. Ihre Augen waren mit schwarzen Lidschatten perfekt in Szene gesetzt. Wenn man Danielle so ansah, glaubte man, eine selbstbewusste, schöne Frau vor sich stehen zu haben, doch das Bild trügte. 

Auf der Stirn bildete sich ein glänzender Schweißfilm, ihre Lippen bebten und ihre Atmung ging unregelmäßig. Zuerst hechelte sie, dann veränderte sich ihr Atemgeräusch in ein angestrengtes Schnaufen. Die junge Frau begann zu keuchen, schnappte verzweifelt nach Luft. Die Atemnot schnürte ihr die Kehle zu, sodass sich ihre Augen vor Angst weiteten. 

Verzweifelt blickte sich Danielle im Zimmer um, bis sie endlich ihre schwarze Samthandtasche fand. Hastig öffnete sie die Clutch. Da entglitt sie ihren zittrigen Fingern und der gesamte Inhalt verteilte sich auf dem weißen Sandsteinboden. 

Mit panischem Blick ließ sich die junge Frau auf die Knie fallen, verfluchte laut, bis sie endlich die weiße Spraydose in der Hand hatte. Noch immer nach Luft ringend, öffnete sie den Verschluss, führte die spitze Öffnung an den Mund, drückte auf den Knopf und atmete tief ein. Augenblicklich weitete der Wirkstoff ihre Bronchien und sie konnte wieder frei atmen. 

Erschöpft setzte sie sich auf den kalten Boden, wiederholte den Vorgang, lehnte an die kühle Wand und stützte die Arme auf ihre angewinkelten Knien ab. Sie schloss gequält die Augen, hörte sich selbst atmen und spürte, wie sie allmählich ruhiger wurde. 

Seit ihrer Kindheit hatte Danielle Asthma, wurde deswegen in der Schule oft gehänselt, aber es war nichts Außergewöhnliches. Wie ihre blonde Mähne gehörte es zu ihrem Leben. Damals traten die Anfälle häufiger auf, meist in den ungünstigsten Momenten. Es hätte der schönste Moment in ihrem Leben werden können, als sie sich zu ihrem ersten Kuss ermutigt fühlte, hätten ihre Bronchien nur mitgespielt. 

Je älter sie wurde, umso weniger Anfälle erlitt Danielle. Und sie glaubte tatsächlich, ihr Asthma losgeworden zu sein, bis ein unvorhersehbarer, heftiger Asthmaanfall vor einem halben Jahr das Leben dreier Menschen einforderte. Blinzelnd öffnete sie die Lider und sah sich um. Sie war einfach in dieses Zimmer gestürmt, hatte sich zurückgezogen, um sich zu beruhigen, wusste aber gar nicht, wo sie hier eigentlich gelandet war. 

Die Wände waren komplett weiß. Es wirkte kahl und kalt, auch an Möbeln wurde gespart. Eine Spiegelwand, zwei Schminktische, auf dem Schminkutensilien standen. Es musste sich um eine Garderobe oder ein Schminkzimmer handeln. Auf der gegenüberliegenden Seite befanden sich eine schwarze Ledercouch und ein Couchtisch. Das war alles. Keine Pflanzen, keine Bilder. 

Danielle fühlte sich nicht wohl. Ein Blick auf die Uhr verriet ihr mit drohenden Zeigern, dass es langsam ernst wurde. Die junge Frau rappelte sich auf, verstaute ihr Hab und Gut in die Tasche, strich sich das bodenlange Kleid glatt und sah nochmal in den Spiegel. 

»Du schaffst das, Danielle«, sprach sie sich Mut zu, in der Hoffnung, ihre Nervosität somit abschütteln zu können. Sie befand sich im Ritz Carlton Hotel, einem der teuersten und glamourösesten Hotels New Yorks. Eigentlich gar nicht ihre Liga, aber in zehn Minuten musste sie eine wichtige Rede vor den Reichen und Schönen halten. Danielle wusste von Anfang an, dass diese Rede keine gute Idee war. Sie war eher der Typ, der solche Vorträgen lauschte, anstatt sie selbst zu halten. Aber es ging darum, Menschenleben zu retten - und dafür konnte man schon mal eine Ausnahme machen. 

Seit ungefähr zwei Jahren war sie Mitglied der Organisation Ärzte ohne Grenzen. Sie war hautnah in Kriegsgebieten dabei, musste unter unmöglichsten Voraussetzungen lebensrettende Operationen durchführen. Es war eine Erfahrung, die ihr ganzes Leben auf den Kopf gestellt hatte. 

Gestern und für immer LeseprobeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt