Kapitel 5

5.8K 245 13
                                    

Als Sebastian die Augen öffnete, fühlte er sich wie gerädert. Drei Stunden Schlaf waren eindeutig zu wenig. Wieder hatte er diesen Alptraum, über den schlimmsten Tag in seinem Leben: Den brutalen Überfall. Es war keine Seltenheit, dass ihn Mrs. Knight, die ihr eigenes Wohnungsabteil im hinteren Teil des Lofts bewohnte, aufwecken musste, da er wild um sich schlug und heiser vom stetigen Schreien war. 

Fast jede Nacht hatte er Alpträume, deshalb schlief er selten und nur dann, wenn sein Körper ihn dazu zwang. Bei Sonnenaufgang wurde er schließlich vom Schlaf übermannt. Die ganze Nacht versuchte er zu malen, doch ihm fehlte jegliche Inspiration. Ständig dachte er über Danielle und das Date nach. Genaugenommen kann er seit zwei Wochen an nichts anderes denken. 

Zu seinem Glück war sie nicht schreiend davongerannt, wie er zuerst vermutete, sondern hatte ihn angehört, sogar noch mit ihm zu Abend gegessen. Sie überraschte ihn, denn sie war eine starke und taffe Frau, die sich nicht leicht einschüchtern ließ. Nur der Gedanke an sie, bescherte ihm eine Morgenlatte der besonderen Art und er ließ von der Staffelei ab und legte den Pinsel beiseite. Das Verlangen danach sie zu berühren, ihr nah zu sein, ihren Körper an seinem zu spüren war stärker, als alles andere was er bis jetzt gespürt hatte. 

Natürlich hatte er Sex, mit Frauen, die er übers Internet kennenlernte und die seine Bedingungen - nur mit Maske - akzeptierten . Doch eine schnelle Nummer wurde mit der Zeit langweilig, er wollte mehr. Es dauerte immerhin Jahre, bis er es sich endlich eingestehen konnte. Sebastian war einsam, sehnte sich nach Gesellschaft, nach Freunden und nach Liebe. 

Seine erste Liebe und tiefste Enttäuschung war Anne. Eine wunderschöne angehende Schauspielerin und Jugendfreundin. Ihre Eltern waren gut miteinander befreundet, wodurch sie praktisch miteinander aufwuchsen. Anne war, wie Sebastian, aus gutem Hause, hatte Geld und genoss große Beliebtheit auf der Harvard University in Boston, die beide besuchten. Genau wie er, war sie süchtig nach Aufmerksamkeit , hatte oberflächliche Freunde und war arrogant. 

Damals ergänzten sie sich: Anne liebte ihn - das dachte er zumindest - und Sebastian liebte diese Frau heiß und innig. Schlagartig änderte sich alles: Man entstellte Sebastians Gesicht auf grausame Art und Weise. Im Krankenhaus bekam er nur Besuche von seiner Mutter, sein Vater war zu dem Zeitpunkt schon an Krebs gestorben. 

Keiner seiner damaligen Freunde, besuchte ihn, nicht einmal Anne, die ihm geschworen hatte ihn ewig zu lieben. Nach wochelnlangen, erfolglosen Versuchen sein Gesicht zu retten, wurde er schließlich entlassen. Zuhause versuchte seine Mutter mit aller Kraft ihn davon zu überzeugen, dass es mehr gab als nur gutes Aussehen, doch ein Blick auf sein Spiegelbild genügte und Sebastian bekam wieder Wutausbrüche. Er zerbrach alle Spiegel im Haus und verschanzte sich in seinem Zimmer. 

Als Anne nach einem Monat endlich bei ihm auftauchte, erschütterte ihre Reaktion auf seine Verletzungen im Gesicht, den kleinen Rest von Selbstwertgefühl, was er noch hatte.

»Anne bitte, warte!«, schrie Sebastian damals seiner Freundin zu, doch es war zu spät. Sie schüttelte entsetzt den Kopf, rümpfte angewidert die Nase und taumelte rückwärts auf seine Zimmertür zu. Als er im Begriff war sie einzuholen, hob sie abwehrend die Hände. 

»Nein, komm mir nicht zu nah, du Monster!«, brüllte sie und griff mit zittrigen Fingern nach dem Türgriff. »Aber ich liebe dich doch und du liebst mich! Du hast es versprochen«, wimmerte er. Der Schock zierte sein ganzes Gesicht, seine Augen füllten sich mit Tränen. Er wünschte sich, Anne würde ihn in den Arm nehmen und ihm versprechen, dass alles gut werden würde. - Doch das gesschah nicht. 

»Sebastian, sieh dich doch mal an! Wer könnte schon ein Monster wie dich lieben?« Das waren die letzten Worte, die er aus ihrem Mund hörte. Sie riss die Tür mit voller Wucht auf, rannte durch den Flur und aus seinem Sichtfeld. Entgeistert fiel er auf die Knie, ballte seine Hände zu Fäusten und schlug auf den dunklen Parkettboden ein. 

Gestern und für immer LeseprobeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt