8. Sostenuto

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Sostenuto (ital.): gehalten

Das erste, was Sebastian auffiel, als er aus dem Zug stieg, war die abgestandene Luft des Londoner Bahnhofs, welche schal und verbraucht schmeckte. Das zweite war der fehlende Wind. In Southampton hatte immer ein kühles Lüftchen geweht, aber hier weit entfernt von Englands Küste war es nahezu windstill.

Sebastian seufzte, als er seinen Koffer aufnahm und in Richtung Ausgang steuerte. Die Kur hatte ihm gutgetan. Nicht nur seine Lungen fühlten sich besser an, auch sein Geist schien sich erholt zu haben.

Beinahe hätte er den Mann übersehen, der etwas abseits der Menschenmengen stand und den Zug mit Adleraugen betrachtete. Der Wintermantel wirkte teuer, doch Sebastian wusste, dass Geld keine Rolle für ihn spielte. Der andere Mann hatte ihn bereits entdeckt, natürlich hatte er das, und als Sebastian das kleine Lächeln sah, wäre er am liebsten auf ihn zugestürmt, um ihn zu umarmen.

Er riss sich zusammen und schritt langsam auf James Moriarty zu. Sein Grinsen wurde mit jedem Schritt breiter, doch es vom Gesicht zu wischen, hätte zu viel Anstrengung gekostet. James Moriarty war tatsächlich hier, um ihn abzuholen. Sie hatten sich das letzte Mal im Krankenhaus gesehen, was inzwischen eine halbe Ewigkeit her zu sein schien. Bis auf eine Depesche, die ihn über das Londoner Wetter informierte, hatte er nichts von dem Consulting Criminal gehört. Natürlich war mit dem Londoner Wetter ein Auftrag gemeint gewesen, der sehr zur Freude Moriartys hervorragend von Mary Ann Nichols ausgeführt worden war.

Nichols hat mich so eben unterrichtet, dass das Wetter gestern sonnig gewesen ist, hatte in dem Brief gestanden und er hatte eine Weile gebraucht, um zu verstehen, worum es eigentlich ging.

Bereits vor Joes Tod hatte Moriarty von einem lokalen Politiker den Auftrag erhalten, einen der Konkurrenten auszuschalten. Mary Ann hatte sich als Hausmädchen einschleichen sollen, um die Innenseite der Teetasse mit Gift zu bestreichen. Doch dann war Joe gestorben und der Mord, den sie gemeinsam geplant hatten, war auf der Strecke geblieben. Nun hatte sie ihn also doch noch ausgeführt und dann auch noch mit Erfolg. Sebastian hätte Lügen müssen, wenn er behaupten wollte, die Nachricht hätte ihn nicht gefreut, immerhin war das Gift seine Idee gewesen.

„Willkommen zurück, Mr. Moran", Moriarty reichte ihm die Hand und hielt diese dann ein bisschen länger als nötig.

„Es freut mich sehr, Herr Professor", Sebastian drückte die Hand ein bisschen fester als nötig.

Dies war ihre Art zu sagen, was nicht gesagt werden durfte.

„Meine Droschke wartet draußen", informierte Moriarty und Sebastian trottete brav hinter ihm her.

Sie traten aus dem Bahnhofsgebäude und Sebastian stellte fest, dass es geschneit haben musste. Dreckiger Schneematsch platschte unter ihren Füßen, als sie zur Droschke gingen. Levi Mendelssohn, Moriartys Fahrer, wirkte trotz des schwarzen Mantels ziemlich verfroren. Er grüßte Sebastian mit einem Nicken und verstaute seinen Koffer.

Sebastian ließ sich auf die gepolsterte Bank fallen. Moriartys Droschke war fast gemütlicher eingerichtet als der Zug. Er hörte das Klappern der Hufe auf dem Pflaster, als sich die beiden Pferde in Bewegung setzten und musste lächeln. Nun war er wahrlich wieder Zuhause.

In Southampton waren weniger Droschken unterwegs gewesen als in London, es waren auch weniger Menschen gewesen und weniger Fabriken. Die Luft hatte nicht nach Rauch geschmeckt und die Gassen hatten nur ganz leicht nach Urin gerochen.

Doch es war genau dieser Großstadt Smog, der für ihn inzwischen nach Heimat roch.

Mendelssohn brachte die Pferde vor Moriartys Backsteinvilla zum Stehen. Moriarty warf ihm einen erwartungsvollen Blick zu, als er die Droschkentür öffnete. „Wie sieht es aus, kommen Sie noch auf einen Whiskey mit rein?"

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