12. Intermezzo

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Intermezzo (ital.): Zwischenspiel

Der Junge hielt Sebastian die Zeitung direkt unter die Nase, doch dieser musste nicht mal einen Blick auf das Titelblatt zu werfen, um zu wissen, was drinstand. Die Times berichtete wie alle Zeitungen derzeit über den Mord an Annie Chapman.

„Hier steht alles drin, was Sie über den Mord an Chapman wissen müssen", rief der Junge, doch Sebastian bezweifelte diese Aussage. Trotzdem hielt er an, steckte dem Jungen zwei Pfund zu und nahm ihm eine Zeitung ab. Statt sie selbst aufzuschlagen, betrachtete er den Jungen. Dieser war höchstens dreizehn, hatte fettiges Haar und ein dreckiges Gesicht, welches viel zu ernst für ein Kind wirkte.

„Was muss ich denn über den Mord wissen?", fragte Sebastian und steckte dem Jungen weitere fünf Pence zu.

„Es ist wie bei Nichols", begann der Junge, der sich über die Aufmerksamkeit zu freuen schien, die ihm zu Teil wurde, „Einige Kommissare behaupten sogar, es wäre der gleiche Mörder. Es ist wieder eine Hure und es ist wieder in Whitechapel, diesem Drecksloch, passiert."

„Steht da auch drin wie sie gestorben ist?", fragte Sebastian.
„Jawoll, Sir. Zwei Schnitte durch die Kehle und den Bauch hat man ihr ausgeweidet", erzählte der Junge ein wenig zu begeistert.

„Tatsächlich?", Sebastian tat überrascht, dann steckte er dem Jungen einen weiteren Pence zu, „Wie ist dein Name Junge?"

„Benjamin Parker, Sir."
„Freut mich, Parker", grinste Sebastian und nickte dem Jungen zum Abschied zu.

Die folgenden Wochen verbrachte Sebastian damit, die Zeitungen zu studieren. Es war seltsam wie schnell ein Mord, der noch vor wenigen Tagen jedes Titelblatt gefüllt hatte, innerhalb der nächsten Woche nicht mal mehr eine Meldung in der hintersten Ecke der Zeitschrift wert war. Neue Sensationen füllten die Seiten und befriedigten die Neugier der Menschen. Wie die Raben stürzten sie sich auf jeden Artikel, der Leid versprach und tief im Inneren freuten sie sich, dass es nicht sie getroffen hatte.

Moriarty sah er in dieser Zeit nicht, obwohl der Professor weniger als zwei Kilometer entfernt wohnte. Er bekam auch keine Briefe oder Depeschen mit neuen Aufgaben und auch Mendelsohn klingelte nicht an seiner Tür, um ihn abzuholen. Er vermisste James die meiste Zeit mehr, als er es sich eingestehen wollte. Doch er wusste, dass er erst wieder in die dunklen Augen würde blicken können, wenn sich in diesen nicht mehr Mary Anns Tod spiegeln würde. Er fragte sich, wie viel eine Liebe vertragen konnte und ob ihre Liebe nicht eigentlich schon zum Scheitern verurteilt gewesen war, als Moriarty Joe hatte umbringen lasse. Es war seltsam wie dieser Mord an seinem Freund in den Hintergrund gerückt war, weil James ihn geküsst hatte. Da war nicht einmal das Gefühl der Schuld gewesen.

Die Tage zogen ins Land und Sebastian begann sich mit der Situation zu arrangieren. Vielleicht war es besser, wenn er James nie wiedersehen würde, denn was außer den Tod hatte der Consulting Criminal je in sein Leben gebracht?

Der September neigte sich seinem Ende, als Sebastian James doch wiedersah. Es war eine ungewollte Begegnung auf der Straße. Kurz blickten sie einander an, dann wandte James sein Haupt und es war nichts weiter als eine Begegnung zwischen Fremden. Sebastian wünschte sich, es täte weniger weh.

Zwei Tage nach jener Begegnung erschütterte ein Doppelmord London. Elisabeth Stride und Catherine Eddowes wurden von ein und demselben Mann umgebracht, den die Presse inzwischen liebevoll als Jack the Ripper bezeichnete. Angeblich hatte er sich selbst in einem Bekennerschreiben diesen Namen zulegt, doch Sebastian wusste, dass das nicht stimmte. Er kannte die Großstadtpresse und ihren Drang nach Geltung. Sie hatten ein Faible dafür Mördern absonderliche Namen zu geben und erfreuten sich daran, wenn diese Namen voller Angst durch die Gassen geraunt wurden.

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