6 ~ Skye

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Ich kann nicht ohne dich leben.

Noch immer fragte ich mich, ob diese Worte tatsächlich wahr waren. Hatte Luke mir das tatsächlich einfach so ins Gesicht gesagt, mitten auf dem Schulgang? Und meinte er es wirklich ernst?

"Man, Skye, ich hab fünfmal geklingelt und du stehst immer noch hier!" Noch bevor ich weiter über Lukes Absicht nachdenken konnte, hatte meine Freundin die Tür zu meinem Zimmer aufgerissen und mich in eine feste Umarmung gezogen. 

"Wo bist du nur immer mit deinen Gedanken?" Mit einem gespielt tadelnden Gesichtsausdruck ließ sie von mir ab und fuhr sich ein paar Mal durch die verwuschelten Locken, bevor sie sich wieder mir zuwandte. "Doch nicht etwa da, wo ich vermute?"

"Was auch immer sich in deinem Kopf abspielt: Nein. Ganz sicher nicht." Trotzdem konnte ich nicht verhindern, dass mir das Blut in den Kopf schoss. War es so offensichtlich, dass ich über Luke nachdachte? 

"Du wirst rot.", stellte Jenny mit sachlicher Stimme fest, bevor sie neben mich vor den Spiegel trat. "Und du willst mir doch nicht weismachen, dass du dich ohne Grund so aufgestylt hast. Du siehst nämlich echt gut aus."

"Das ist nur ein bisschen Eyeliner, nichts Besonderes.", winkte ich ab, auch wenn mir ein kurzer Blick nach vorne bestätigte, dass sie recht hatte. Meine Haut wirkte zwar hell, aber keineswegs so blass wie sonst. Auch das türkise Blaugrün meiner Augen wurde durch den dunklen Lidschatten betont, sodass man meinen konnte, ich würde Kontaktlinsen tragen. Dabei war der helle Schimmer, der von meinen Iriden ausging, nichts weiter als ein leichtes Leuchten, auch wenn es in der Dunkelheit deutlich hervorstach.

"Ach komm schon, Skye. Jeder Blinde sieht, dass du auf ihn stehst und ihn am liebsten einfach nur abknutschen würdest...", riss mich Jenny mit ihren Sticheleien von meinem Spiegelbild weg. Auch wenn ich versuchte, ihre Worte nicht allzu ernst zu nehmen, spürte ich doch, was sie bei mir auslösten. Schon die Vorstellung von Lukes Lippen rief ein ungewohntes Kribbeln auf meiner Haut hervor und verwandelte mein Gesicht automatisch wieder in eine Tomate.

"Außerdem passt ihr perfekt zusammen. So wie Luke dich jedes Mal anschaut, träumt der doch schon seit Tagen davon, wie ihr gemeinsam im Bett landet. Nur ihr beide, im Kerzenlicht..." Ohne zu zögern trat Jenny in den kleinen Flurbereich, der mein Zimmer mit dem Treppenhaus verband, das zu den wenigen Gästezimmern führte, die unsere Pension zu bieten hatte. Zwar standen diese schon seit Jahren leer, sodass man sie längst zu einer kleinen Einliegerwohnung umfunktionieren hätte können, doch meine Großmutter hatte die Hoffnung scheinbar immer noch nicht aufgegeben. Auch wenn sich seit Jahren kein Tourist mehr hierher verirrt hatte, schon gar nicht im Winter, wenn von den Wäldern her der eisige Wind über die kleinen Ortschaften fegte.

Automatisch drehte ich mich in Richtung des Fensters, hinter dem der Nebel in langen, tiefhängenden Schwaden vorbeizog. Wie ein sanfter Schleier hatte er sich auf die grasbewachsenen Hänge gelegt, die eine Schneise zwischen dem Waldrand und den ersten Häusern bildeten. Eine Art Grenze zwischen dem kleinen Ort und den endlosen Weiten, über denen sich die schwarze Silhouette des alten, längst leerstehenden Hotels wie eine Festung erhob. Auch wenn ich diesen Anblick seit klein auf gewohnt war, zog sich doch eine leichte Gänsehaut über meinen Rücken, als ich meinen Blick in Richtung des baufälligen Gebäudes lenkte. Selbst aus der Ferne wirkte es gigantisch, mit seinem riesigen, eisernen Eingangstor, den langen Fensterreihen und dem Efeu, der an der Fassade emporrankte.

Ich hätte sicherlich noch eine weitere halbe Stunde einfach so dastehen und dem Nebel zusehen können, wie er die Tannen mit leicht silbrig schimmernden Wassertropfen benetzte. Wie die Dunkelheit über dem Wald herabsank und alles verschluckte. Doch bevor ich mich in diesem Anblick verlieren konnte, hatte mich Jenny schon am Arm gepackt, um mich zur Treppe zu zerren: "Komm jetzt endlich, wir müssen echt los! Oder willst du die Party mit deinem süßen Crush etwa einfach so verpassen?" Genervt stöhnte ich auf und wollte Jenny schon einen Stoß in die Rippen versetzen, als ich am Handgelenk gepackt wurde. 

Augenblicklich wirbelte ich herum, bis ich in die einst hellen Augen meiner Grandma sah, die jetzt einen matten Grauton angenommen hatten. 

"Was?", maulte ich, während ich mich innerlich verfluchte, schon wieder zusammengezuckt zu sein. Eigentlich sollte ich es mittlerweile gewohnt sein, dass sie sich jedes Mal mit diesem lautlosen, katzenhaften Gang anschlich, doch ich bekam immer noch fast einen Herzinfarkt, wenn sie plötzlich neben mir stand. 

"Luke Taylor?", murmelte sie jetzt neugierig, während ich mich mit einem entnervten Seufzer aus ihrem Griff befreite. 

"Ja, der Typ mit den blonden Haaren und dem süßen Lächeln, der in der Villa, nur ein paar Häuser weiter wohnt. Skyes Freund.", antwortete Jenny an meiner Stelle, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt. Ich hingegen wusste nicht, wen ich in diesem Moment lieber gegen die Wand gedrückt hätte. Meine Freundin, weil sie meiner Grandma so etwas erzählte, oder der grauhaarigen Frau, die mich jetzt durch ihre Brille anstarrte, als hätte ich nicht mehr alle Tassen im Schrank.

"Ex-Freund. Zwischen uns war nie etwas.", verbesserte ich grummelnd und warf Jenny einen vernichtenden Blick zu. Jetzt konnte sie es vergessen, dass wir noch rechtzeitig auf der Party auftauchten. Denn wenn man erst einmal das Interesse der alten und eindeutig übergeschnappten Frau geweckt hatte, kam man so schnell nicht mehr weg. Nicht umsonst wurde Grace von den meisten als verrückt angesehen. Sie ging kaum vor die Tür, verbrachte den Großteil des Tages auf dem Dachboden und gab jedem, dem sie begegnete, eine völlig unverständliche Prophezeiung mit, von der sie felsenfest überzeugt war.

Auch jetzt schien sie wieder in ihren mysteriöse-Warnungen-Modus verfallen zu sein, jedenfalls sah sie mir über den Rand ihrer Brille so intensiv in die Augen, als wolle sie daraus mein künftiges Schicksal herauslesen.

"Eure Seelen sind unvereinbar. Halte dich von ihm fern.", krächzte sie.

„Ach, ist das jetzt mein persönliches Horoskop, oder was?", gab ich in gereiztem Ton zurück, um das Thema endgültig abzuhaken. Zwar war Grace für mich lange Zeit wie eine zweite Mutter gewesen, nachdem Mum eines Tages einfach nicht mehr dagewesen war, doch in letzter Zeit ging sie mir mit ihren ständigen Visionen und Warnungen nur noch auf die Nerven. Vor allem, wenn kein Mensch verstand, was sie damit meinte.

"Wage es nicht, dem Schicksal zu widersprechen." Mit einem schnellen Schritt nach vorne hatten ihre Finger erneut meinen Arm umschlossen, noch bevor ich Jenny nach unten folgen konnte. "Du wirst es bereuen. Denn schon bald wirst du die Wahrheit hinter der Lüge erkennen und trotzdem in die falschen Arme laufen."

"Okay, schon gut.", murmelte ich abwesend. Meine Gedanken waren sowieso schon längst bei meinem ehemaligem Freund. Wollte Luke tatsächlich eine zweite Chance? War ich ihm nicht egal?

„Du wirst in Gefahr geraten, Skye." Jetzt hob ich doch neugierig den Kopf, um jedes Wort der seltsamen Warnung zu verstehen. Graces Stimme war von einer Sekunde auf die andere so schwach geworden, dass ich befürchtete, sie würde jeden Moment zusammenbrechen. Sie presste jeden einzlenen Buchstaben mit einem Krächzen heraus, als koste es sie eine unheimliche Kraft, das Folgende über die Lippen zu bringen.

"Denn...er will deine Seele. Und er wird sie bekommen."


Seelenhüter (pausiert)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt