Prolog

336 47 112
                                    

Es war ein warmer Herbstabend, einer von diesen Tagen, an denen der kalte Nebel, der sich in der Dämmerung über die Felder legte, ein letztes Mal von der Kraft der Oktobersonne verdrängt wurde. Der laue Wind umspielte ihre Haare und ließ sie im Abendlicht golden schimmern. 

Nervös strich sich die junge Frau über die Arme, ließ ihre Hand unter ihr weites, mit Spitze verziertes Kleid gleiten, bis ihre Finger das kalte Metall berührten. 

Alles war geplant. Sie hatte alles im Griff. Seit Monaten arbeitete sie sich auf diesen Tag hin, doch jetzt zweifelte sie trotzdem an ihrer Entscheidung. 

Der Mann, der eigentlich fast noch ein Junge war, kam mit schnellen, angespannten Schritten auf sie zu. Er trug sein Standartoutfit, eine weite Jeans, kombiniert mit einem dünnen Shirt, über dem er eine hellgraue Kapuzenjacke trug, die er vorne geöffnet hatte. 

Gut so. Sie hatte nämlich keine Ahnung, wie gut das Messer sich durch mehrere Stofflagen bohren konnte. 

Als er näherkam, setzte sie ihr schönstes Lächeln auf und fiel ihm in die Arme. Er durfte auf keinen Fall etwas ahnen, sonst würde er sie daran hindern, da war sie sich sicher. 

Stattdessen musste sie ihn täuschen, seine flammenden Küsse erwidern, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Für sie ging alles viel zu schnell, während er es kaum erwarten konnte, endlich den Gang hinab zu laufen, die Zimmertür aufzureißen und sie auf das weiße Bettlaken zu werfen. 

Im Kopf ging sie noch einmal die Schritte durch, erwog es, zu improvisieren, ließ es dann aber doch lieber bleiben. Natürlich hätte sie gerne noch ein letztes Mal mit ihm geschlafen, doch sie durfte nicht. Sie musste sich an die Anweisung halten. Wenn das hier schief ging, war sie am Arsch. 

Die ganzen letzten Wochen und Monate hatten ihr schwer zu schaffen gemacht, sie war ausgestoßen worden, gehörte nicht mehr dazu. Der einzige Trost war das Kind. Lächelnd erinnerte sie sich an das kleine Wesen, das sie erst gestern weggegeben hatte und es trotzdem schon jetzt vermisste. 

Die anderen meinten, es sei besser so, auch wenn sie es gerne behalten hätte. Sie kam sich jetzt vor, als fehle ein Teil von ihr, ein Teil ihres Herzens. Aber sie musste ihren Auftrag erfüllen, es war ihre Pflicht. Anders ging es nicht. Der Mann ihr gegenüber war ihr Feind, der Feind des ganzen Stammes. 

Sein Blick traf ihren, er lächelte und in seinem Blick schwang diese Frage mit, auf die sie nur gewartet hatte. Natürlich wollte er. Wie hatte sie nur daran zweifeln können, dass er nicht bereit sei, mit ihr ins Bett zu steigen? 

Sie nickte ohne irgendetwas zu sagen und ließ sich von ihm in das nächstgelegene Zimmer führen. Wie erwartet drängte er sie aufs Bett und sie musste sich zusammenreißen, um ihn nicht wegzustoßen. Sie hasste seine Berührungen, aber gleichzeitig taten sie auch so wahnsinnig gut. Sie liebte es, seine Hände auf ihrer Haut zu spüren, wusste, dass es ihm genauso gehen musste.

„Ich liebe dich.", flüsterte er und wollte ihr das Kleid über den Kopf streifen, doch sie wich zurück und fuhr mit der Hand unter den seidigen Stoff. 

Noch hatte er nichts bemerkt, näherte sich ihr, mit einem wundervollen Lächeln auf seinem Gesicht. Hinter sich spürte sie das Metall des Bettgestells und der eine Teil ihres Körpers flehte den Mann vor ihr an, sie dagegen zu drücken und endlich das Verlangen nach ihm zu stillen. 

Doch es gab eben immer noch einen dazugehörigen, anderen Teil. Den, der ihr sagte, dass er schlecht für sie war. Er war der Falsche. Und sie durfte sich auf gar keinen Fall in seinen Bann reißen lassen.

Unbemerkt senkte sie ihren Blick und starrte auf den Gegenstand, der leicht in ihrer Hand lag. In der hereinbrechenden Dunkelheit schimmerte die Klinge leicht silbrig, obwohl es eine sternenklare Neumondnacht war.

Sie sah wieder zu ihm. Jetzt hatte er das Messer bemerkt. Seine Augen waren weit aufgerissen, Entsetzen und Angst spiegelten sich darin wider. Langsam wich er zurück, auch wenn sie genau sah, welchen Kampf er in sich austrug. 

Sich ihr zu nähern, seinem Trieb nachzugehen und ihren Körper mit tausenden Küssen zu bedecken – oder die Flucht ergreifen. Er würde sich für Letzteres entscheiden, das spürte sie. Gerade deswegen durfte sie keine Zeit verlieren. 

Langsam drehte sie das Messer herum und beobachtete, wie er panisch zum Rand des Bettes robbte. Er versuchte, etwas zu sagen, doch er brachte außer einem unverständlichen Stottern nichts heraus. 

Ihr ging es genauso. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, was ausnahmsweise nicht an der Tatsache lag, dass ihm sein T-Shirt halb ausgezogen über dem Kopf hing und ihr ein stählerner Sixpack entgegenstrahlte. Wie gern hätte sie sich jetzt einfach hinreißen lassen, hätte ihre zierlichen Hände unter den Stoff geschoben, hätte ihm alles vom Leib gerissen. 

Ach, sie sehnte sich so nach dieser Leidenschaft, die einmal zwischen ihnen war. Diese Liebe, die jetzt zwar immer noch in der Luft hing, aber längst nicht mehr so knisterte wie früher. 

Sie seufzte niedergeschlagen. Die Klinge fühlte sich zentnerschwer an und zog ihre Hand nach unten. Ein letztes Mal sah sie ihn an, ließ ihren Blick über den Mann gleiten, den sie einst so geliebt hatte. Wieso konnte es nicht einfach so bleiben? Wieso musste sie hier sein, mit einem Messer in der Hand, bereit, ihn zu töten? 

Sie seufzte erneut, woraufhin der Mann sich etwas entspannte. Wahrscheinlich dachte er, sie wäre sowieso nicht in der Lage, zuzustechen. Vielleicht hatte er Recht. Sie liebte ihn immer noch. Jedes Mal, wenn sie in seine dunkelblauen Augen sah, spürte sie, wie sich etwas in ihr regte. 

Und doch konnte sie ihm das nicht verzeihen. 

Niemals.

Und trotzdem konnte sie ihn jetzt nicht töten. Eigentlich hatte sie das von Anfang an gewusst. Sie war hier hineingegangen mit dem Wissen, dass das Messer nicht seine Haut durchschneiden würde, sondern ihre. 

Ein letztes Mal sah sie ihn an, bemerkte aus dem Augenwinkel, wie seine Lider zuckten, wie er nach vorne schnellte, um ihr das Messer zu entreißen. 

In genau dem Moment stach sie zu zielsicher, sodass nur ganz wenig Blut aus der Wunde auf das wunderschön blaue Kleid tropfte. Es war sein Geschenk an sie gewesen. Und sie hatte sich so darüber gefreut, damals, als sie noch nichts geahnt hatte. Damals, als alles noch so wunderschön und sorglos war, wie beim ersten Mal. Als sie so unsterblich verliebt gewesen war, dass sie diesem Mann bedingungslos vertraut hatte. 

Ein Fehler, wie sie jetzt wusste.

Mit Tränen in den Augen ließ sie die letzten Bilder ihrer gemeinsamen Zeit hinter sich und konzentrierte sich voll und ganz auf den Schmerz. 

Das Letzte, was sie spürte, war, wie die Muskeln erschlafften, wie sie einknickte und sich treiben ließ, hinein in eine schmerzlose, schwarze Leere.

Seelenhüter (pausiert)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt