12 ~ Skye

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„Was soll das?!", wiederholte ich zum gefühlt hundertsten Mal. Es war die einzige Frage, die mir auf die Schnelle in den Sinn gekommen war, demnach war sie nicht sonderlich kreativ, doch eine Antwort erwartete ich sowieso nicht. Seit mir der Fremde seinen Namen und gleich darauf die Idee der Flucht offenbart hatte, schwieg er wie ein Grab. Ich konnte noch so viel schreien oder meine Füße in den Boden stemmen – er schleifte mich kommentarlos mit sich, als wäre ich ein Tier, das er erfolgreich gejagt und gefangen hatte. Allein die Tatsache, dass er mir nicht einmal einen flüchtigen Blick zuwarf, um sich zu versichern, dass es mir gut ging, ließ ihn auf der Sympathieskala ganz nach unten rutschen. Da konnten selbst seine wachsam leuchtenden Augen nichts mehr dagegen ausrichten. Oder sein charmantes Lächeln, das er mir zugeworfen hatte, bevor sich seine Hand um meine geschlungen hatte. Jetzt spürte ich nur noch die Fingerkuppen, die sich in meinen Oberarm bohrten.

„Lass' mich verdammt noch mal los!" Ich versuchte, mich mit aller Kraft aus dem Griff zu entreißen, allerdings erwies sich dieses Vorhaben als schwieriger als gedacht. Zwar konnte ich mich noch vage an die Inhalte des Selbstverteidigungskurses erinnern, zu dem mich mein Vater vor ein paar Jahren gezwungen hatte, nachdem es in unserer Gegend immer häufiger zu nächtlichen Schlägereien gekommen war, doch als Mädchen hatte ich gegen einen ausgewachsenen Kerl keine Chance, Hebelgriffe und Kung-Fu-Tritte hin oder her. Schon gar nicht, wenn der Gegner eine knapp zweimeterhohe Wand war, die mich mit Leichtigkeit zu Boden drücken konnte. Allerdings schien er es weniger auf eine direkte Konfrontation abgesehen zu haben, im Gegenteil. Mit jedem Meter, den wir uns von dem Haus entfernten, kam er seinem eigentlichen Ziel offenbar näher. Die einst angespannten Züge verflüchtigten sich, nur noch ab und zu warf er einen schnellen Blick über die Schulter, als wolle er sich versichern, dass uns keiner verfolgte.

Wir müssen hier weg, erinnerte ich mich an seine Worte, die kurz vor unserem halsbrecherischen Sprint gefallen waren. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich sie ausgeblendet, doch jetzt, als ich endlich wieder Luft holen konnte, kamen sie wieder an die Oberfläche. Und mit ihnen neue Fragen, die sich wie selbstverständlich unter die bisherigen, leider ungeklärten mischten. Warum hatte er ‚wir' gesagt?

Unsicher schielte ich zur Seite. Seine Mimik ließ noch immer nicht viel aus sich schließen. Er hatte einen neutralen Blick aufgesetzt, in den man vieles hineindeuten konnte. Das Kinn war leicht nach vorne gestreckt, die dichten Brauen über den Augen zusammengezogen, allerdings weder auf eine aggressive noch misstrauische Art. Es war unmöglich, die Absicht herauszulesen.

„Fertig mit Anstarren?" Ich sah ertappt zu Boden und fragte mich zeitgleich, wie er mich keines Blickes würdigen konnte, aber dennoch wusste, dass ich ihn beobachtet hatte. Auch jetzt hatte er sich wieder leicht zur Seite gedreht, jedoch ruhten seine leuchtenden Iriden noch immer auf mir. „Komm', uns bleibt keine Zeit für ein gemütliches Kaffeekränzchen."

„Wieso uns? Was soll das alles überhaupt?!", rutschte es mir heraus, woraufhin ich einen strafenden Blick erntete. Im selben Moment zog mich der Fremde, oder Flame, wie er sich vorgestellt hatte, erneut mit sich. Diesmal packte er mich jedoch nicht am Arm, sondern klatschte nur schroff seine Hand in meine.

„Vertrau mir einfach", kam es einsilbig zurück. Obwohl die Worte alles andere als ihre beabsichtigte Wirkung erzielten, nickte ich. „Gut, dann los." Sein Händedruck verstärkte sich und zwang mich, mit ihm Schritt zu halten, auch wenn mein Körper längst an seinem Limit angekommen war.

„Wohin?"

„Richtung Siedlung." Mit einem Seufzen legte er einen lockeren Seitwärtsschritt ein. „Weil du ja unbedingt noch eine Cola-Dusche nehmen wolltest."

„Das war Jennys Entscheidung, nicht meine!" Am liebsten hätte ich ihm in diesem Moment ebenfalls irgendeinen Drink über den Kopf gekippt, einfach nur, um ihm sein dämliches Grinsen aus dem Gesicht zu wischen.

Seelenhüter (pausiert)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt