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Ich hatte vieles erwartet. Dass sie geschlossen ist. Dass sie vollkommen leer ist. Dass ich wieder nach Hause gehen muss. Aber nicht das.

Ungewöhnlich viele Leute hatten an diesem wunderschönen Sommernachmittag die Bar aufgesucht. Sie tranken und lachten und tranken noch mehr, um noch mehr lachen zu können. Das winzige Glas mit der durchsichtigen Flüssigkeit, die ich bestellt hatte, war schnell leer getrunken. Das zweite ebenfalls. Ich wollte mir gerade ein drittes bestellen, als mich ein Typ von der Seite ansprach.

„Na, was musst du vergessen?" Und mit einem Mal war alles wieder da. Pausieren. Wollen. Brauchen. Therapie. Holz. Feuer. Tod. Okay? Was war bitte schon okay? Er hatte Angst. Er wollte eine Pause. Er wollte stark sein. Nur ohne mich. Und er wollte, dass ich stark bin. Aber wie sollte ich das ohne ihn anstellen? Ich schüttelte den Kopf, als Antwort auf Theos Frage. Das Kopfnicken war die falsche gewesen.

„Du willst nicht darüber reden?" Er wartete nicht einmal meine Antwort ab. „Macht es dir etwas aus, wenn ich von meinen Problemen erzähle? Also..." Schon wieder. Vielleicht hatte er bereits so viel getrunken, dass er alles verwackelt wahrnahm und mein stillstehender Kopf für ihn aussah, als würde er nicken. „Meine Freundin hat mich mit meinem besten Freund betrogen. Jeden Montag, wenn ich beim Training war. Drei Monate lang. Ich habe ihr Blumen gekauft, habe ihr ihr Lieblingsessen gekocht, habe sie ins Kino ausgeführt, während die zwei wichtigsten Personen in meinem Leben miteinander geschlafen haben. Und als den einen Tag das Training ausfiel und ich früher nach Hause kam, da lagen sie beide nackt in unserem Bett. Ich musste mir erstmal eine neue Matratze kaufen. Und als ich sie anschrie, wie sie so etwas nur tun kann, hat sie wortlos ihre Tasche gepackt und ist zu ihm gefahren. Seit zwei Wochen wohnt sie jetzt dort. Gemeldet oder entschuldigt hat sie sich seitdem nicht. Funkstille. Wie kann ein Mensch nur so unmenschlich sein?"

Ich dachte an Theo. Er war so menschlich, dass ich gar nicht wütend auf ihn sein konnte. Doch genau das machte mich wütend.

Ich zuckte nur mit den Schultern und brachte ein „Tut mir leid, Mann" heraus.

„Ich würde so gerne wieder etwas fühlen. Etwas anderes als Wut und Verwirrung und Elend." Zum ersten Mal schaute ich ihn wirklich an und bemerkte die grüne Iris und die Sommersprossen auf seinen Wangen und das kleine Bisschen Hoffnung in seinen Augen. Ich weiß nicht, was ich tat und warum ich das tat, aber ich lehnte mich zu ihm und küsste ihn, während ich mir vorstellte, es wäre Theo.

Genauso hätte es sein sollen. Theo und ich, abends in einer Bar, auf meinen Geburtstag anstoßend, auf die kommende gemeinsame Zeit freuend, küssend. Danach wären wir vielleicht zu ihm gefahren, hätten es uns auf seinem Bett gemütlich gemacht und die Zweisamkeit genossen. Stattdessen war ich zu ihm gegangen, dem Typen aus der Bar, dessen Name ich nicht einmal kannte. Es hatte nicht lange gedauert, bis wir nackt waren und die neue Matratze austesteten. Es fühlte sich gut an. Zwar nicht richtig, aber was in aller Welt war schon richtig?

Eines Tages wären wir sowieso alle tot. Wer würde da noch wissen, was wir damals an dem einen Tag in dem einen Sommer gemacht haben? Es war alles so unglaublich unbedeutend. Jede Handlung, jeder Gedanke, jeder gelebte Tag. And one day we will die and our ashes will fly from the aeroplane over the sea.

Ich wollte nicht denken. Nicht jetzt. Konnte ich nicht einfach die Nähe, die Wärme und die Küsse, die sich anfühlten, als wären sie von Theo, genießen? Ich ließ die Augen geschlossen, damit mich die grüne Iris nicht entlarven konnte. Ich stellte mir vor, das hier wäre seine Wohnung, sein Atem, sein Körper.

Und ich drehte das Radio leise, damit mich In The Aeroplane Over The Sea von Neutral Milk Hotel nicht von dem riesengroßen Fehler, den ich gerade beging, ablenken konnte.

EverlongWo Geschichten leben. Entdecke jetzt