Wenn ich den Tag mit einem Wort beschreiben müsste, könnte ich es nicht, weil keines existierte, das den furchtbaren Dingen, erschreckenden Erlebnissen und grauenhaften Gedanken gerecht wurde. Ich hatte fast mein ganzes Geld ausgegeben, der Barkeeper hatte mich kurzerhand rausgeworfen, und nach Hause wollte ich nicht, da mich die gelben Rosen im Schlafzimmer nur wieder an alles erinnern würden, was heute schief gelaufen war. Da ich nicht wusste, wohin ich sollte, lief ich einfach ohne Ziel durch die Straßen, bis meine Füße das Duell gewannen und ich mich an einer ruhigen Ecke niederließ. Ich hatte keine Ahnung, wo ich war und wie ich nach Hause kam, aber darüber wollte ich mir keine Gedanken machen. Die Wirkung der Drogen ließ nach und verursachte stärker werdende Kopfschmerzen. Ich schloss die Augen und-
„Du bist verrückt", flüsterte mir der Barkeeper ins Ohr.
„Du bist verrückt", sagte der Sommersprossentyp von der anderen Seite.
„Du bist verrückt!", rief meine Schwester von hinten.
„DU BIST VERRÜCKT!", schrie Theo in mein Gesicht.
„ICH BIN NICHT VERRÜCKT!", entgegnete ich. Erst jetzt fiel mir auf, dass wir im Diner waren, dort, wo alles begann.
Die vier standen um mich herum, sodass ich keine Möglichkeit hatte, auszuweichen. Sie wiederholten ihre Worte, während ich versuchte, gegen den Lärm anzukämpfen. Immer mehr Kunden des Diners setzten ein und sprachen, brüllten, kreischten. Meine Stimme wurde leiser und leiser, bis nur noch ein Krächzen blieb, das ebenfalls nach und nach verstummte. Alles, was ich dann noch schaffte zu sagen, war: „Ich bin verrückt."
Dann wachte ich auf. Das Erste, was ich wahrnahm, waren Motorengeräusche. Sie wurden lauter und leiser. Immer wieder. Erst nur selten, vielleicht ein Mal die Minute, am Ende bestimmt jede Sekunde. Immer wieder. Immer öfter. Das Zweite, was ich wahrnahm, waren die Lichter. Anfangs waren es Straßenlaternen, die die noch dunklen Gehwege beleuchteten, und die Lichter der Autos, die die Straßen erhellten. Nach einiger Zeit wurden die künstlichen durch das natürliche Licht abgelöst und die Stadt begann im roten Schein der aufgehenden Sonne zu strahlen. Das Dritte, was ich wahrnahm, war meine fehlende Tasche. Und das war der Moment, in dem ich so richtig wach wurde. In dem mir alles wieder bewusst wurde. In dem ich merkte, dass irgendwer meine Tasche samt meines Portemonnaies, Schlüssels und Handys gestohlen hatte.
Doch ich fing nicht an zu weinen, oder zu schreien, oder mich hektisch umzudrehen, in der Hoffnung sie nur übersehen zu haben oder den Dieb gerade um die Ecke laufen zu sehen. Nein. Ich stand vollkommen ruhig auf, lief Richtung Sonnenaufgang und kam irgendwann, wie durch einen Zauber, zu Hause an. Zum Glück hatte ich damals unter die Fußmatte einen Ersatzschlüssel gelegt. Vielleicht kannte ich die Stadt doch besser, als ich dachte. Vielleicht ging es mir auch gar nicht so schlecht, wie ich vermutet hatte. Vielleicht war ich auch einfach nur froh, weil ich wusste, dass es nun wirklich nicht schlimmer kommen konnte.
Ich hatte immer noch starke Schmerzen, wo genau, konnte ich selbst nicht sagen. Ich glaube, mir tat einfach alles weh. Und da es mir schlechter nicht gehen konnte und ich eh nichts zu verlieren hatte, tat ich einfach das, was mir in dem Moment richtig vorkam. Ich goss mir ein Glas kaltes Wasser ein, trank es aus, und wiederholte das bestimmt fünf Mal. Anschließen ließ ich mir ein Bad ein und blieb bestimmt für eine Stunde darin. Danach zog ich mir frische Kleidung an, das schönste Sommerkleid, das ich finden konnte, und meine Lieblingssandalen. Ich machte mir Rührei und belegte Brötchen, die ich mit einer Tasse Tee auf der Terrasse genoss. Als ich fertig war, räumte ich die Wohnung auf, putzte alles, was längst sauber gemacht hätte werden sollen, schmiss die Rosen weg, und ging ins Bad, wo ich mich schminkte. Ich deckte die viel zu dunklen Augenringe ab, benutzt etwas Mascara, Rouge und Lippenstift, und als ich mich danach immer noch nicht gut fühlte, griff ich zu einer Schere und schnitt mir meine Haare ab. Der Sommersprossentyp lag sowas von falsch. Mein Spiegelbild würde sich nicht vor mir verstecken, es würde auf mich warten, mir hinterherrennen, mich vergöttern. Ich schaltete das Radio an und genoss die leise Musik, die keinen Platz für Stille, meine Gedanken und Sorgen zuließ. Ich blickte einer Person entgegen, die lächelte, weil ihr Leben noch nicht vorbei war. Die es in der Hand hatte, für Veränderungen bereit war, sich von einem schlechten Tag nicht herunterkriegen ließ. Eine Person, die ihr Leben unter Kontrolle hatte.
I tried to be perfect but nothing was worth it.
Ich hatte meinen Freund verloren. Meine Würde, mein Geld, mein Handy, doch vor allem das Leben, das ich bis vor vierundzwanzig Stunden noch hatte.
I'd thought it'd be easy but no one believes me.
Ich hatte gedacht, er wäre für mich da. Er würde mich lieben, mir helfen, mich in allem unterstützen. Ich hatte gehofft, meine Schwester hatte nicht recht. Ich wünschte mir, ihr Vater hätte sie damals nicht geschlagen und ihr all das an den Kopf geworfen, das sie mir weitergab. Ich wünschte, jemand hätte ihr gesagt, sie solle zur Therapie gehen, so wie Theo es mir gesagt hatte. Ich wünschte, ich wäre nicht so wütend gewesen, sondern würde ihm einfach verzeihen. Ich hoffte, dass es noch nicht zu spät war, obwohl ich wusste, dass es das war. Ich hoffte die Liebe ihres Ersatzvaters würde ihre Wunden eines Tages heilen. Ich wünschte mir, dass er mich genauso lieben würde wie sie. Dass sie sich ihre Fehler eingestehen würde. Und ich mir meine.
Sometimes it's so crazy that nothing could save me.
Sie alle hatten irgendjemanden, der an sie glaubte. Sie alle hatten Freunde, Familie, ein Ort, an dem sie sich zu Hause fühlten, ein Ohr, das ihnen immer zuhörte, eine Schulter, an die sie sich immer anlehnen konnten. Ich hatte das auch. Gehabt. Doch zusätzlich hatte ich immer diese Gedanken, die sich in jedem Lied, das im Radio gespielt wurde, wiederfanden, mich anbrüllten, niedermachten, bekämpften. Und ich hatte keine Kraft mehr, mich zu wehren.
Und ich sah meinem Spiegelbild dabei zu, wie durch die strömenden Tränen sein Makeup verschmierte, sich schwarze Ränder unter seinen Augen bildete, es den Mund aufriss und die Augen zusammenkniff; bei dem Versuch, die Tränen wegzuwischen, den Lippenstift verschmierte; es begann, seine Haare auszureißen, nur noch mehr weinte und sich alles wiederholte und verschlimmerte.
Nothing could ever be so wrong.
Und ich nahm das Radio in beide Hände, schmiss es mit all meiner Wut durch die Fensterscheibe, und als ich immer noch Laute hörte, stieg ich hinterher und trat so lange auf das Radio ein, bis es in seine Einzelteile zerfiel und ich mir sicher war, dass es nun keine Chance mehr hätte, Pieces von Sum 41 zu spielen.
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Everlong
Short StoryUnd ich drehte das Radio auf, um Everlong von den Foo Fighters besser hören zu können.