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In der Nacht hatte ich einen komischen Traum. Ich träumte davon, wie eine Frau gerade ihre Tochter stillte, als sie komische Geräusche vernahm. Sie lief zum Fenster und sah, wie im Innenhof eine Fensterscheibe zerbrochen war, und wie eine junge Frau aus dem Rahmen stieg und gegen einen kantigen Gegenstand trat, während sie immer wieder die gleichen Worte wiederholte: „Hör auf! Hör auf!" Sie schaute es sich bestimmt eine Minute lang an, bis ihr Baby aufgrund der ungewöhnlichen Geräusche zu weinen begann. Die Mutter löste sich aus ihrer Starre und wählte die 110, während sie die Irre nicht aus den Augen ließ. Diese hatte sich mittlerweile auf den Boden gesetzt, der voller Scheiben sein müsste, wo sie den Kopf in ihren Händen vergrub und weinte. Als die Polizei kam, wehrte sie sich nicht einmal, sondern ließ sich einfach von den zwei Männern mitziehen. Sie stiegen ins Auto und fuhren weg – zur Irrenanstalt vermutete die Mutter. Wie sehr sie hoffte, dass aus ihrem Kind später nicht einmal auch so jemand werden würde.

Als ich aufwachte, war ich froh, dass ich nicht die Person war, die bemerkt hatte, dass in unmittelbarer Nähe von ihrem Zuhause und ihrem Baby eine Verrückte wohnte, die jeden Moment eine unüberlegte Tat hätte begehen und sonst wem damit schaden können. Doch noch froher war ich darüber, dass ich nicht diese irre Person war, die sich selbst nicht unter Kontrolle und sich vor allen blamiert hatte. Nein, ich lag bloß friedlich in meinem Bett, mit einer Kette um den Hals und Rosen auf der Kommode, die an meine gescheiterte Beziehung erinnerten.

Doch als ich die Augen öffnete, war da keine gelbgestrichene Wand. Da waren keine Rosen, keine Fotos, keine geblümte Bettwäsche. Da war eine weiße Tür in einer weißen Wand, ein weißes Bettgestell mit weißer Decke und mir darin. Das war nicht irgendeine Verrückte, die im Garten ihr Radio kaputt getreten hatte – das war ich. Ich war die Verrückte.

Ich wollte schreien. Doch die aufgehende Tür hielt mich davon ab. Herein trat eine blasse Frau, die bis auf ihre roten Haare perfekt zum Farbton des Zimmers gepasst hätte. Sie stellte sich dicht neben mich und fing an, mit ruhiger Stimme auf mich einzureden: „Hallo Enna, ich hoffe Sie konnten sich etwas erholen. Sie erinnern sich sicherlich an den Vorfall heute Mittag. Es hat einen Grund, weshalb Sie hier sind, und was auch immer Sie denken, wir wollen Ihnen nur helfen, diesen Grund zu finden und Sie dabei zu unterstützen, dass solch ein Vorfall nicht noch einmal vorkommt. Wir- oh, wie unhöflich von mir, mich gar nicht vorzustellen. Ich bin Elvia Langholz, es freut mich, Sie kennenzulernen."

Mehr bekam ich nicht mit. Verdattert versuchte ich die Puzzleteile der vergangenen Stunden zusammenzusetzen und mich daran zu erinnern, warum mir ihr Name so bekannt vorkam. Das Einzige, was ich schaffte, war ein paar Mal zu nicken, während sie mir etwas über meinen Tagesablauf, Sitzungen und Vertrauen erzählte. Als sie fertig war, ließ sie mich mit mehr Fragen als Antworten zurück. Aber ich hatte keine Möglichkeit, mich damit auseinanderzusetzen, denn genau in dem Moment, in dem sie den Raum verließ, wurde im Radio ein neues Lied eingespielt.

Ich brauchte nicht mal eine Nanosekunde, um zu erkennen, dass es Everlong war. Und wie es nun mal so war, kam in dem einen Augenblick alles hoch, was ich die letzten Stunden unterdrückt hatte. Jede Erinnerung an jedes Versagen, jedes Tiefersinken, jedes Aufprallen, jedes Es-kann-nicht-mehr-schlimmer-werden-Ereignis und jedes Oh-doch-Ereignis.

Everlong. Allein der Titel war schon bescheuert. Es gab doch nichts, das ewig andauern konnte. Nicht die Liebe, nicht die Hoffnung, nicht das Leben, allerhöchstens der Schmerz, der meiner Brust tausend Stiche versetzte, meine Atemwege zusammenziehen ließ und mir Bauchkrämpfe bereitete. Was ich nicht alles dafür getan hätte, das Lied nicht hören zu müssen. Wie gerne ich meine Ohren abgerissen, den Stecker rausgezogen, das Radio eingeschlagen, es aus dem Fenster geworfen, irgendetwas getan hätte, um es nicht mehr hören zu müssen.

Doch die Zwangsjacke ließ es nicht zu, das Radio auszuschalten.

Ende.

EverlongWo Geschichten leben. Entdecke jetzt