O

174 31 1
                                    

Menschen waren wie Tannen. Sie wuchsen und wuchsen und wuchsen und irgendwann würden sie gefällt werden, einfach so, ohne Grund. Dann würden sie zu einer der zig Verkaufsstellen gebracht, Reihe an Reihe auf einen viel zu kleinen Platz gestellt und von zig Familien begutachtet werden. All die hässlichen und verkrüppelten Tannen, die zu klein oder zu dick oder mit zwei Spitzen ausgestattet waren, ernteten allerhöchstens einen mitleidigen Blick, da die Familien wussten, was mit ihren passieren würde. Bis nach Weihnachten würden sie auf dem elendigen Platz verweilen, vertrocknen, und noch hässlicher werden, bis sie kurz vor Neujahr auf den Straßenrand geworfen werden würden und dort auf ihr Ende warteten, wenn dieses nicht schon beim Fällen eingetreten war.

Genau wie einer dieser Tannenbäume hatte ich mich gefühlt, seit ich aus seiner Wohnung gestürmt war. Die Tränen waren so schnell geflossen, dass ich im Treppenhaus mehrmals die Stufen verfehlte und hinfiel. Der Schmerz an meinen Beinen hatte sich mit dem in meinem Herzen und meinem Kopf duelliert. Und ich war mit jedem Schritt schneller geworden, weil ich gehofft hatte, dass sich schnelles Rennen vielleicht ansatzweise wie Fliegen anfühlte. Irgendwann war ich an einem Park angekommen und meine Füße waren mit in das Duell eingestiegen. Ich hatte bestimmt eine Stunde im Gras gesessen, geweint, gelacht, geschrien, und lauter dieser Tannenbaumblicke geerntet. Bis ein kleiner Typ mit langen schwarzen Haaren auf mich zu gekommen war und mir für einen orangenen Geldschein eine durchsichtige Tüte mit weißem Pulver gegeben hatte. Nachdem es in meiner Nase und wenig später in meinem Gehirn war, fühlte es sich nicht an, als würde ich fliegen, sondern noch viel besser: Ich schwebte.

Ich schaute nach oben und bemerkte, wie am ganzen Himmel verteilt regenbogenfarbene Wolken waren und es sich anfühlte, als würde ich auf genau so einer sitzen. Dass ich mit einem fremden Typen das getan hatte, was ich normalerweise mit Theo tat, war mir egal. Dass Theo mich eine Zeit lang nicht sehen wollte, auch. Und dass meine Schwester mich immer und immer wieder erniedrigte und ich darunter litt, erst recht. Denn Leid war für mich zum Fremdwort geworden. Ich kannte nur Freude, Ungebundenheit und Glückseligkeit. Die Luft war lila und schmeckte nach Pancakes. Ich schwebte über die Wiesen, roch an den Grashalmen und fragte mich, wie sie wohl hießen, stellte mir vor, wie ich meiner Schwester ins Gesicht boxte und wie Theo mich fragte, ob ich bei ihm einziehen wollen würde. Er trug ein gelbes Hemd und ich ein gelbes Kleid. Nachdem wir zusammen gekocht und gegessen hatten – es hatte Fisch mit Bratkartoffeln und Brokkoli gegeben – kniete er sich plötzlich hin und hielt eine Schachtel in seinen Händen, in der sich sein zweiter Wohnungsschlüssel befand. Natürlich bejahte ich die Frage, ob ich von nun an bei ihm wohnen möchte. Und er legte einen Arm um meine Hüfte und wir begannen zu tanzen. Ohne, dass Musik aufgelegt war, einfach so. Nachdem ich nicht mehr konnte, legte ich mich wieder auf eine der Wiesen und gab den Grashalmen Namen. Erika. Elisabeth. Ella.

An mehr erinnere ich mich nicht. Ich weiß nur, dass ich mich ziemlich lange im Park aufgehalten haben muss, denn als ich ihn verließ und die nächste Bar ansteuerte, war es bereits dunkel.

Die Bar war deutlich voller als die letzte, doch von dem grünen Sommersprossentypen war zum Glück keine Spur. Somit konnte mich auch niemand davon abhalten, ein drittes, viertes und fünftes Mal zu bestellen. Ich fühlte so vieles und gleichzeitig nichts, ich fiel und schwebte und saß und alles drehte sich. Doch dann wechselte das Lied im Radio und erinnerte mich an all das, das ich die letzten Stunden erfolgreich geschafft hatte, zu vergessen. Let's go back to the middle of the day that starts it all.

Im Zeitraffer wurde der Verlauf des heutigen Tages vor meinem geistigen Auge abgespielt und am Ende, als ich mich selbst sah, wie ich umgeben von leeren Gläsern und Flaschen selbst eine geworden war, musste ich mich fast übergeben. Think happy thoughts.

Wie? Wie zum Teufel sollte ich das anstellen? Think happy thoughts.

Ich konnte doch nicht den ganzen Tag lang, und das jeden Tag, Alkohol trinken. Think happy thoughts.

Wie einfach das klang, und wie schwer es umzusetzen war. Think happy thoughts.

ICH KANN NICHT! Think happy thoughts.

Und ich griff eine der Flaschen und warf sie Richtung Radio, das Headfirst For Halos von My Chemical Romance spielte, doch ich erinnere mich nicht mehr, ob ich traf oder nicht.

EverlongWo Geschichten leben. Entdecke jetzt