L

160 33 1
                                    

Ich weiß gar nicht, wann genau ich anfing, einen Fehler zu begehen. War es, als ich entschied, zu ihm nach Hause zu gehen? Oder schon als ich die Bar betrat? Als ich im Diner ausrastete? Als ich Theo meine Probleme anvertraute? Als ich mich die letzten Monate weigerte, zu einem Therapeuten zu gehen? Als ich meine Schwester einfach so reden, und ihre Gedanken meine werden ließ? Als ich immer nur zusah und nie eingriff?

Ich weiß nicht, wann dieser Fehler anfing. Ich weiß nur eines: Als ich feststellte, dass dies einer war, war es bereits zu spät.

Es musste bestimmt schon eine Stunde her gewesen sein, dass wir die Bar verlassen hatten. Ich fragte mich, wie lange wir noch weitermachen würden. Ob ihm das hier leicht fiel. Wie sehr er seine Exfreundin vermisste. Ob er sie sich vorstellte, wie ich es mit Theo tat. Ob ich so roch wie sie. Ob ich so schmeckte wie sie. Ob er das überhaupt bemerkte. Oder ob ihm einfach alles egal war. Mit großer Sicherheit dachte er über all das überhaupt nicht nach, weil wir das hier genau aus dem Grund taten: um nicht nachdenken zu müssen. Bei mir hatte es erstaunlich lange funktioniert. Bis ich die Augen aufgemacht hatte.

Zuerst hatte ich gehofft, dass das alles nur ein böser Traum war. Dass ich gleich aufwachen würde, Theo in mein Zimmer käme, mir Blumen überreichte, wir den Tag gemeinsam verbringen würden – ohne Tränen, ohne Stille, ohne den nackten Körper eines fremden Mannes an meinem – und dass alles in Ordnung wäre. Aber das war es nicht. Das alles war so passiert und passierte noch immer. Es ließ sich nicht ungeschehen machen. Es reichte kein „Entschuldigung", kein „ich liebe dich", nichts.

What the hell am I doing here?

Genau das fragte ich mich. Immer und immer wieder. Ich fand keine Antwort. Ich gehörte hier nicht hin. Vielleicht nicht auf diese Welt – das war eine andere Frage – aber mit Sicherheit nicht in dieses Zimmer. Wie hatte ich mich nur darauf einlassen können? Wie hatte ich denken können, dass ein völlig Fremder den Verlust einer der wertvollsten Personen in meinem Leben kompensieren konnte? Je länger ich versuchte, diese Fragen, zu denen keine Antwort gehörte, zu verstehen, umso mehr brannten sich die Worte meiner Schwester in mein Gehirn. Ich hatte ihn nicht verdient. Früher oder später würde er mich eh wegen einer Besseren verlassen. Dachte ich wirklich, ich wäre gut genug für ihn? Ich sollte mich mal ansehen. Meinen Abschluss hatte ich doch nur geschafft, weil ich meinen Lehrern leid tat. Meine Freunde verbrachten höchstens dann Zeit mit mir, wenn sie ihr Selbstwertgefühl steigern wollten. Ihr fragtet euch alle insgeheim, wann ich endlich auszog. Ich war ein Nichts.

Dann kam sie mit ihm zusammen. Weil sie so viel besser war als ich. Weil sie immer nur Einsen schrieb. Weil sie die besten Freunde hatte. Weil ihre Eltern sie liebten.

Dann lernte ich Theo kennen. Ich zog aus, trennte mich von meiner Familie, doch alles, was meine Schwester mir damals gesagt hatte, trennte sich nicht von mir. Und genau jetzt, in diesem Moment, kam es wieder hoch.

„Entschuldigung." Mehr brachte ich nicht hervor. So schnell ich konnte, löste ich mich aus dieser völlig falschen Position, stand von der völlig falschen Matratze auf und warf mir meine Kleidung über. Ich schlüpfte in meine Schuhe, griff meine Tasche und öffnete die Tür. She's running out again. Genau das tat ich, beziehungsweise hatte ich vor zu tun. Wären da nicht seine Worte gewesen, die er mir an den Kopf warf, nachdem er seine Sprache wiedergefunden hatte, und die sich mit denen meiner Schwester vermischten.

„Was ist eigentlich falsch mit dir? Ich habe dir doch erzählt, wie sich meine Ex verhalten hat. Denkst du das macht es jetzt noch besser? Denkst du, ich bin ein gefühlsloses Etwas, das allen egal sein kann?" Du rennst immer nur weg. Du bist so feige. „Was bitte ist dein Problem? Wenn du nichts mit mir anfangen willst, hättest du das nicht gleich in der Bar sagen können? Die eine an dem Tisch am Fenster sah sowieso viel besser aus als du. Sie wäre bestimmt dankbarer gewesen." Du wirst niemals mit den anderen mithalten können. Ich meine, wer mag denn schon gelbe Rosen lieber als rote? Als ob du jemals jemanden findest, der dir gelbe Rosen schenkt. „Oh, da verschlägt es dir glatt die Sprache, weil der böse Fremde dir deine kleinen Äuglein geöffnet hat? Wie traurig es sein muss, in einer Bar den nächstbesten Betrunkenen anzusprechen, weil man bei Nüchternen nie Erfolg hätte. Du solltest dich mal sehen, aber so verheult wie du bist, würde selbst dein Spiegelbild vor dir wegrennen." Du bist verrückt. „Du bist verrückt."

Ich drehte mich um, doch drehte mich nochmal zurück, ignorierte seinen verwirrten Blick und stapfte zum gelben Radio.

Und ich riss den Stecker mit voller Wucht aus der Steckdose, weil ich das schon viel früher hätte tun sollen, bevor überhaupt erst Creep von Radiohead gespielt werden konnte.

EverlongWo Geschichten leben. Entdecke jetzt