1. Regen [✓]

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Regen

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Regen.
Wie ich den Regen hasse - jetzt immer noch. Seitdem ich hier auf der Straße lebte, hatte ich das Gefühl, es würde ständig regnen. Regnen in mir, aber auch draußen. Doch beide Arten von Regen ähnelten sich in drei Punkten - er war grau und ließ mich zittern und fluchen.
Gut, ich fluche auch oft, wenn es nicht regnet, aber das tut gerade nichts zur Sache.
An jenem Morgen aber war der Regen besonders schlimm, denn es regnete in mir wie außerhalb von mir - und ich war schon völlig durchnässt. Außerdem quälte mich mein Husten. Ich war gerade einmal eine Woche hier auf der Straße, aber schon zweimal fast von der Polizei erwischt worden und würde in spätestens zwei Wochen an der Grippe, Fieber oder Tuberkulose erkrankt und gestorben sein. Auch wenn Tuberkulose zu den eher selteneren Krankheiten gehörte ... Wer sagte, dass ich am Ende nicht doch Blut spuckte? Mein Hals schien schon so seltsam zu brennen ...
Sei kein solcher Pessimist, Sebastian, mahnte ich mich selber, obwohl ich wusste, dass meine Laune dadurch nicht besser werden würde - eher das Gegenteil. Na und? Was war schlimm daran, ein Pessimist zu sein? Ich sah die Dinge nur so, wie sie waren - ich war jemand, der der Realität ins Auge blickte, ohne mit der Wimper zu zucken, so dachte ich.
Wie naiv ich doch war.
An diesem verregneten und ekelhaften Morgen war es schon hell, und die Straße, über die ich ging, war bereits gefüllt von Menschen. Männer und Frauen, schwarz gekleidet, als wären sie zu einer Beerdigung unterwegs - gut, ich war nicht besser, aber egal -, hasteten an mir vorbei, die Augen auf ein für mich nicht nachvollziehbares Ziel gerichtet. Ich wusste schon jetzt, ich würde die Dinge niemals so sehen, wie es die meisten Menschen taten. Was zum Beispiel war an Suizid so schlimm? Sollten sie sie doch gehen lassen; wenn sie nicht mehr länger wollten, was brachte es, sie hier im Leben festzuhalten? Ohne den Tod gäbe es das Leben nicht.
Aber ich wollte leben, jedenfalls noch, und so zog ich mir die Kapuze meines schwarzen und schon reichlich dreckigen Hoodies tiefer ins Gesicht und sah mich nach einem Geschäft um, das so billig verkaufte, dass ich mir etwas leisten konnte. Mir hätte auch nur ein Kaffee genügt - ein schlechter, schwarzer Kaffee in einem Pappbecher, der zwar einen bitteren Nachgeschmack im Mund hinterließ, aber von innen wärmte und wach machte.
Aber - wie war es auch anders zu erwarten gewesen - alles war zu teuer für mich. Ich sparte, wo ich nur konnte, das hatte ich im Heim schon gelernt. Sparsam mit Essen, sparsam mit Worten, sparsam mit allem, was mir Schwierigkeiten bereiten könnte.
Sie hatten gewollt, dass ich schwieg - sie hatten einen schweigenden Sebastian gewollt.
Es war so furchtbar schwer, zu schweigen ... Schon bald sollte ich begreifen, dass noch schwerer war, zu reden.

An diesem Morgen musste ich also ohne meinen morgendlichen Kaffee auskommen. Dadurch sank meine Stimmung noch mehr, und die Tatsache, dass ich den Tag am Straßenrand im Regen sitzend verbringen würde, darauf wartend, dass jemand so gütig war, ein Fünfzigcentstück in einen meiner Pappbecher zu werfen, verbesserte das nicht gerade. Gut, ich hatte es ja nicht anders gewollt. Hier wurde ich wenigstens nicht von den Betreuerinnen geschlagen und beschimpft.
Pass auf, sonst wirst du noch positiv! Müde trottete ich weiter und zog mir die Kapuze noch etwas tiefer ins Gesicht. Niemand musste die Narbe sehen, die mein Gesicht entstellte - niemand sollte Fragen stellen. Wegen dieser Narbe hatten kleine Kinder Angst vor mir.
Wieso, überlegte ich, während ich die Straße hinabging, machte mir das so viel aus? Kinder waren nervig, unnütz und laut.
Ja, so dachte ich, als ich selber noch fast ein Kind war. Ich will nicht sagen, dass es heute anders ist, aber es hat sich ein wenig geändert - ich bin weniger abfällig geworden. Ob das eine Besserung ist? Ich weiß es nicht. Denn das bedeutet, dass etwas von meinem schützenden Panzer zerstört wurde ...
Durch wen oder was?
Fragt nicht. Seid geduldig. Das werdet ihr noch früh genug erfahren.

Es ist furchtbar kräftezehrend, den ganzen Tag herumzusitzen und zu warten, dass jemand einem ein bisschen Geld gibt, und das ist mein Ernst. Ich erinnere mich noch genau, wie die Füße der Menschen an mir vorbeitrappelten, wie ihre teilnahmslosen Blicke mich nur kurz streiften, wie sie in mir nicht mehr sahen als einen Jungen in einem schwarzen Hoodie und mit einer Kapuze auf dem Kopf. Hin und wieder sah ich auch einen Obdachlosen, der an mir vorbeiging, aber die interessierten sich nur noch weniger für mich als alle anderen.
Doch einer - einer war anders.
Schon traurig, wenn man genau nachdenkt, oder? Nur einer ... Und dennoch reichte dieser eine aus, um mein Leben um Einiges zu verbessern.

Ich saß inzwischen in einer relativ entspannten Haltung da, unter diesem Vordach, und hatte mich mit dem Rücken gegen die Wand hinter mir gelehnt. Ich hatte die Augen geschlossen, denn ich hatte Kopfschmerzen und mein Magen knurrte, verkrampfte sich geradezu. Das sanfte Trommeln des Regens machte mich nur noch müder, auch wenn einige Menschenstimmen mich immer wieder aus meinem leichten Schlaf holten.
Dann hörte ich Schritte, näher an mir als die anderen Füße, die einen kleinen Bogen um mich machten - und gleich darauf verstummte das Geräusch dieser Schritte. Ich öffnete vorsichtig ein Auge. Und da kniete er, ein Junge, etwa neunzehn, mit seinen hellbraunen, zerzausten Haaren und den ebenso braunen Augen. Eine kleine, etwas zu spitze Nase, ein rundes und trotzdem nicht kindlich wirkendes Gesicht, eine offene, grüne Jacke, darunter ein dunkelgrünes Shirt und eine einfache Jogginghose. Er war dreckig, so wie ich, und trug einen ebenfalls grünen Rucksack auf dem Rücken, der schon reichlich mitgenommen aussah.
»Hey, Kleiner«, waren seine ersten Worte, und bei seiner Stimme entspannte ich mich unwillkürlich ein wenig mehr - er hatte eine tiefe, ruhige Stimme.
»Was machst du hier so alleine?« Spott blitzte in seinen warmen braunen Augen, und ich merkte, dass er sich über die Leute lustig machte, die so mitfühlend und besorgt taten.
Ich musste grinsen.
»Sieht man das nicht?«, antwortete ich leise und öffnete auch mein zweites Auge. »Ich denke, wir sind Leidensgenossen«, fügte ich mit einem weiteren Blick hinzu.
Kurz schien mein Gegenüber wie erstarrt. Er starrte mir geradewegs in die Augen, und obwohl mich das nervös machte, starrte ich zurück. Ich hatte schon oft gehört, wie strahlend blau meine Augen doch waren - eisblau mit einigen dunkelblauen Sprenkeln um die Pupille. Mir persönlich war es ziemlich egal, wie ich aussah. Vielleicht machten diese Augen ja die Narbe wieder gut ...
Die Narbe. Verdammt. Hastig zog ich mir die Kapuze wieder richtig ins Gesicht. Aber der Junge mir gegenüber schien nichts bemerkt zu haben.
»Leidensgenossen?« Er runzelte leicht grinsend die Stirn. »Ich würde das hier nicht unbedingt als Leiden bezeichnen, aber ich bin ja auch nicht alleine ...«
Ich spannte mich an. Sollte das eine Drohung sein?
»Na komm.« Er stand auf und musterte mich mit einer Mischung aus Belustigung, Mitleid und ... Bewunderung? »Ich bring dich zu uns. Du holst dir hier draußen ja noch sonstwas.«
Vorsichtig erhob ich mich - er hatte recht. Ich wollte wirklich nicht an Tuberkulose sterben.
»Sag mal, wie heißt du, Kleiner?«
Er machte keine Anstalten, mir nahe zu kommen, und das tat irgendwie gut.
»Sebastian.«
»Fein, das passt zu dir. Du kannst mich Igel nennen.«
Schmunzelnd beobachtete ich ihn von der Seite. Igel? Ja, das passte gut zu seinen nach allen Seiten abstehenden, kastanienbraunen Haaren.

 Igel? Ja, das passte gut zu seinen nach allen Seiten abstehenden, kastanienbraunen Haaren

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So, das erste Kapitel von »Narben - So blau wie der Himmel« ist fertig! Hehe, ich freue mich gerade so unfassbar! :D

Wie findet ihr Sebastian bis jetzt?
Und was denkt ihr von »Igel«, ist er euch sympathisch?

Ach ja, und falls jemand fragt ... Ich habe während des ganzen Kapitels das Lied »Everybody gets high« von Missio auf Dauerschleife gehört. Ohrwurm? I wo ... xD

NARBEN - SO BLAU WIE DER HIMMELWo Geschichten leben. Entdecke jetzt