Ich hatte gehofft, Igel, Hannah oder Greeny würden sich umdrehen und mich aus den großen Händen des Polizisten befreien.
Ich hatte gehofft, ich würde ihnen genug bedeuten, dass sie innehielten und wenigstens kurz nachdachten über mein Schicksal.
Ich hatte gehofft, ich würde endlich glücklich werden können ...
Es war dieser Tag, an dem mir erst richtig klar wurde, dass ich niemandem trauen konnte, keinem einzigen Menschen. Ich wusste ab heute, dass ich die Hoffnung vor mir selber verstecken musste - ich durfte nicht länger träumen. Die kleine Hoffnungsflamme in mir flackerte gefährlich. Dabei war es doch die Hoffnung, die mich am Leben hielt - am Leben gehalten hatte, Jahre lang. Und nun war dieser Grundbaustein meines gesamten Lebens dabei, zu zerbröckeln. Ich war hin- und hergerissen. Sollte ich die Hoffnung aufrecht erhalten und immer wieder enttäuscht werden oder weitermachen, misstrauisch, verbittert?
Der Atem des Mannes streifte meine Wange. Dem Anschein nach schien er noch recht jung zu sein - vielleicht Anfang zwanzig, etwa so alt wie Greeny. Ein letztes Mal trat ich nach ihm, aber sein Griff an meinem Arm verstärkte sich nur und ich konnte nicht anders, als ihn überrascht anzustarren. Dem Schmerz in meinem Arm nach würde das einen blauen Fleck geben - und plötzlich, als hätte jemand einen Schalter in mir umgelegt, wurde mir klar: Dieser Mann trug nur die Uniform eines Polizisten, aber in Wirklichkeit tat er etwas Verbotenes.
»Lassen Sie mich los!«, zischte ich und Angst stieg in mir auf. Der Blick des Mannes sog meine Furcht auf wie das Papier die Tinte. Ich fühlte mich unwohl.
»Lassen Sie mich los, Sie ... Sie Wichser!« Nein, es war definitiv nicht klug, einen beinahe zwei Köpfe größeren Mann zu beleidigen, vor allem, da ich gerade wehrlos war.
Sogleich hörte ich ein Klatschen, welches laut auf der verlassenen, finsteren Straße hallte. Ein brennender Schmerz machte sich in meinem Gesicht breit, es schien mir fast, als würde meine eine Gesichtshälfte in Flammen stehen.
Kühlende Tränen liefen mir über meine Wangen, als ich den Mann aus zusammengekniffenen Augen anfunkelte und das einzige tat, was mir das Gefühl von Schutz gab: ich fluchte, so laut ich konnte. Beschimpfte diesen Mann, diesen angeblichen Polizist, und trat gleichzeitig nach ihm, aber es nützte nichts. Er ließ mich nicht los, egal, wie sehr ich mich wehrte.
»DU!«
Ich drehte überrascht den Kopf bei Greenys inzwischen vertrauter Stimme. Der Punk stand am Eingang einer kleinen Seitengasse, zitternd vor Zorn bei dem Anblick, der sich bot: Ich, an die Wand gedrückt und der Mann, der mir immer wieder ins Gesicht schlug.
»WIE KANNST DU ES WAGEN?« Mit großen Schritten kam er auf uns zu und packte den anderen so hart bei den Schultern, dass dieser mich vor Schreck losließ. Ich war einfach nur erleichtert, doch gleichzeitig hatte ich Angst, was Greeny tun würde - er war nicht besonders stark, das sah ich an seinem schmächtigen Körperbau, und der falsche Polizist hatte einiges an Muskeln.
»ER IST EIN KIND UND DU BIST JEMAND, DER FÜR GERECHTIGKEIT KÄMPFEN SOLLTE! DU SADISTISCHES SCHWEIN!«
Ich merkte, wie viel Anstrengung es Greeny kostete, sich abzuwenden und nicht zuzuschlagen. Seine Schultern bebten, er war angespannt, doch seine Worte hatten bewirkt, dass der Mann schwieg. Zitternd richtete ich mich vollständig auf und stolperte so schnell ich konnte hinter Greeny her, welcher in grimmiges Schweigen verfallen war. Als der Mann außer Sichtweite war, atmete ich auf, konnte mich aber immer noch nicht entspannen. Es war, als hätte sich da eine schwarze Wand vor mir aufgebaut, die das Atmen erschwerte. Wie damals. »G-Greeny?«, schaffte ich es, hervorzuwürgen. Jetzt fühlte ich mich wirklich so, als würde ich mich gleich übergeben. »Danke ...«
»Nichts zu danken. Irgendjemand muss ja auf dich aufpassen, du Idiot.«
Auch wenn ich es nicht wollte, stiegen mir bei seinem schroffen Ton wieder die Tränen in die Augen. Ich fühlte mich gedemütigt und diese Worte machten das nicht besser. Ich konnte nicht einmal zuordnen, ob sie wirklich so gemeint waren. »Wo sind die anderen?« Ich schluckte ein paarmal, um den Kloß in meinem Hals zu vertreiben.
»Ich schätze, die sind wieder dort, wo wir uns getrennt haben, um dich zu finden«, knurrte Greeny als Antwort und ich fragte mich, ob er irgendwie wütend auf mich war.
Dann fiel es mir auf. ... um dich zu finden ... Sie hatten mich also gesucht? Interessierte ich sie doch? Vielleicht ein wenig?
Als wir an einem kleinen Platz ankamen, an den reichlich Spritzen und anderes Zeug herumlagen, standen Igel und Hannah bereits neben ein paar leeren, gestapelten Kisten. Als sie mich sahen, waren ihre Reaktionen vollkommen unterschiedlich: Hannah starrte mich nur an, sie lächelte nicht einmal, und Igel stürzte auf mich zu.
»Was ist los?«, wollte er wissen, und erst da bemerkte ich, dass meine Sicht ganz verschwommen war vor Tränen.
»Dieser Polizist hat ihn geschlagen«, antwortete Greeny an meiner Stelle mit dunkler Miene. »Dieser Arsch.«
Igel seufzte und nahm seine Hände von meinen Schultern. »Mal wieder.« Er reichte mir ein Taschentuch, und erst da bemerkte ich, dass meine Nase blutete.
»Was meinst du damit?« Ich sah aus großen Augen zu ihm auf. Hieß das, dass es viele Polizisten gab, die so etwas taten?
»Ist egal, Kleiner. Es ist alles gut.«
Ich wollte ihm glauben, wie ich ihm vor einem Tag geglaubt hätte, aber da war etwas in mir, das sich dagegen sträubte. Wenn du ihm glaubst, hoffst du, dass er recht hat, flüsterte es in mir. Wenn du ihm glaubst und hoffst, wirst du wieder enttäuscht werden ... Ich dachte an den Moment, in dem der falsche Polizist mich festgehalten hatte, als ich begriffen hatte, dass niemand angehalten war, um mich zu retten. Jetzt war ich hier, bei Greeny, Igel und Hannah, ja ... Aber war das nicht mehr Zufall als Schicksal? Mein verdammtes Schicksal hätte wahrscheinlich vorgesehen, das dieser Mann mich zu Tode geprügelt hätte ...
Ich hatte viel über das Leben auf der Straße gehört, auch so etwas. Doch ich hatte nie gedacht, dass mir so etwas passieren könnte - dass es so etwas hier, in Deutschland, überhaupt gab. Ich weiß nicht, was ich davor gedacht hatte - etwa, dass so etwas nur in Indien oder Amerika vorkam, so wie viele dachten, dass es Amokläufe nur in Amerika gab und nur in Indien Armut?
Ich war dumm und ein kleines Kind, das begriff ich in diesem Moment. Ich war dreizehn, auch wenn ich mir manchmal vorkam wie fünfzehn oder so. In den Augen der anderen war ich wehrlos - und das stimmte ja auch. Egal, wie tiefgründig ich dachte, wie viel ich fluchte - ich blieb dreizehn, und diese Zahl bestimmte von nun an mein Leben. Hatte diese Zahl nicht schon die ganze Zeit mein Leben bestimmt?
Weil ich dreizehn war, hatten die Betreuerinnen im Heim sich getraut, mir zu schlagen. Weil ich dreizehn war, hatte ich diese Narbe und verbarg mein Gesicht. Weil ich dreizehn war, hatte Igel mich angesprochen - weil ich so jung war und auf der Straße nicht alleine zurechtgekommen wäre. Das war ich ja auch nicht, als ich noch jeden Tag eine warme Mahlzeit und ein Bett gehabt hatte. Erbärmlich - jämmerlich, durchfuhr es mich. War ich wirklich so schwach, wie viele dachten?
Das Taschentuch färbte sich rot.In dieser Nacht lag ich wieder lange wach und als ich mitten in der Nacht Angst bekam, weil ich dachte, draußen würde ich Schritte hören, war ich versucht, Greenys Sachen nach Schlaftabletten zu durchsuchen. Ich wusste, dass er welche hatte - jeden Abend nahm er eine, um ruhig zu schlafen. Hannah machte oft Scherze darüber, dass er sonst um ein Uhr nachts aufwachen würde, weil er ein Bier brauchte.
Aber dann ließ ich es bleiben, und als ich am nächsten Morgen dann aufwachte, lag Schnee. Weißer, pudriger Schnee, der die leeren Chipstüten überdeckte. Ich entdeckte keine Fußspuren in diesem Schnee, zum Glück. Sonst wäre ich vermutlich durchgedreht.
Schnee - seit vielen Jahren gab es endlich wieder Schnee, richtigen Schnee. Ich liebe Schnee jetzt immer noch.
Und als wir uns an diesem Morgen auf den Weg in die Stadt machten, ahnte ich nicht, wen ich treffen sollte ...______________________________________
So, das fünfte Kapitel ist fertig! :D
In diesem Kapitel ist ja jetzt nicht so viel passiert, aber Greeny hat sich von einer anderen Seite gezeigt - ebenso wie Igel und Hannah, schließlich haben sie sich wirklich nicht nach Sebastian umgedreht.
Wie findet ihr sie jetzt?
Und findet ihr, dass Sebastians Denkweise begründet ist?Gut, einen schönen Samstag euch noch ;)
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NARBEN - SO BLAU WIE DER HIMMEL
Novela Juvenil»Was ist dein größter Traum?« »Ich habe keinen Traum.« »Traust du dich nicht, zu träumen?« »Nein. Ich träume nicht, weil Träume eh nie in Erfüllung gehen.« Sebastian ist gerade einmal dreizehn, als er aus dem Heim, in dem er seit seinem siebten Lebe...