13. Hässlich [✓]

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Seufzend erhob ich mich

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Seufzend erhob ich mich. Meine Beine waren schwer wie Blei, und kurz fragte ich mich, ob ich mir das Klopfen an der Tür nur eingebildet hatte. Dennoch tapste ich zur Haustür und ohne durch den Türspion zu sehen, öffnete ich.
Shadow.
Ich wusste nicht, warum ich so erleichtert war, ihn zu sehen. In einem schwarzen Hoodie und einer lockeren Jogginghose stand er vor meiner Tür und blickte mich aus wachen Augen an.
»Alles okay hier, Bluey?«, fragte er mit einem leichten Lächeln.
»Ja. Klar. Warum?« Ich glaube, ich war noch nie besonders gut im Lügen. Wenn ich früher, vor ein paar Kapiteln, etwas anderes gesagt haben sollte - ja, da habe ich dann gelogen. Wenn ihr mir das geglaubt hat, ändere ich meine Meinung und kann gut lügen.

»Hier hört man jedes kleinste Geräusch. Komm schon, sag die Wahrheit.«
Ich versuchte, ihm die Sicht zu unserer Wohnung zu versperren. Die Wahrheit - tja, die Wahrheit war, dass ich mich in Igel verliebt hatte, ihm vertraut hatte, wieder enttäuscht worden war und Dallas und Greeny dafür hasste, dass sie ... Was genau war eigentlich passiert? Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Igel aus eigenem Antrieb getrunken hatte, aber was wusste ich schon? Ich war noch nie betrunken gewesen; vielleicht fühlte es sich ja wirklich gut an.
Shadow seufzte und fuhr sich mit einer Hand durch sein goldbraunes Haar. Das schwache Licht im Treppenhaus verlieh seinen Augen einen bernsteinfarbenen Glanz.
»Willst du kurz runter zu mir und Xander, Bluey?«, fragte er dann mit seinem üblichen warmen Lächeln. »Ich möchte dir etwas zeigen.«
Ich zögerte. Was meinte Shadow damit? Doch dann gab ich der Neugier in mir nach und nickte langsam. »Gut, wie du willst.«

Shadow schloss die Tür auf. Ihre Wohnungstür funktionierte, im Gegensatz zu der unseren. Xander schien nicht da zu sein, jedenfalls konnte ich ihn weder in dem kleinen, engen Flur, noch in dem gemütlich wirkenden Wohnzimmer entdecken, in dem eine Lampe warmes, heimeliges Licht verströmte und ein paar Duftkerzen standen.
Schließlich kamen wir zu einem Zimmer, mit einer vollkommen kahlen Tür. Alles hier schien mit Bildern zugeklebt sein: die Wohnzimmertür, Schlafzimmertür, Küchentür, selbst die Tür, die zur Toilette führte. Das glich die farblos weißen Wände aus.
Diese Tür dagegen wirkte dunkel, leer, aber als Shadow sie öffnete, verschlug es mir den Atem.

In dem kleinen Zimmer herrschte eine Unordnung, die ich selbst mir nicht zugetraut hätte. Das Bett war ungemacht, voll mit aufgeschlagenen Büchern und leeren, weißen Papierseiten, dazwischen einige, auf denen Bleistiftstriche zu erkennen waren oder viele Wörter völlig zusammenhangslos aufgelistet waren. Die Wände in diesem Raum waren die einzigen, die gestrichen waren. In einem dunklen Blau, welches das ganze Zimmer noch düsterer machte. Ein Schreibtisch stand an der Wand gegenüber von dem breiten Bett, und auf ihm lagen weitere zerknüllte Blätter, sowie Buntstifte, Füller, Pinsel, sogar eine Schreibfeder ...
Und auf dem winzigen Nachttisch neben dem Bett ein vereinzeltes Foto in einem Silberrahmen.
Mit einem Blick vergewisserte ich mich kurz, dass es Shadow nichts ausmachen würde, wenn ich in das Zimmer ging. Die nachtblauen Vorhänge waren halb zugezogen und es roch so, als wäre seit Tagen nicht gelüftet worden, aber ich fand mich dennoch zurecht und stieg über die Berge von Papier, bis ich bei dem Nachttisch angelangt war.
Außer dem Foto war noch ein Buch darauf - ich legte den Kopf schief, um den Titel zu erkennen.
Peter Pan.
Ich kannte nur den Disneyfilm - wer auch nicht? Früher war Peter Pan für mich immer ein großes Vorbild gewesen. Der fliegende Junge, der Hooks Hand an das Krokodil verfüttert hatte, Tiger Lily rettete, der Anführer der Verlorenen Jungen war und mit einer Fee befreundet noch dazu.
Vom dunkelgrünen, schon mit viel Staub bedecktem Einband sah ich zu dem Foto hinüber. Beinahe sofort erkannte ich Shadow und Xander. Das Bild musste etwa zwei Jahre alt sein. Und dann war da der dritte Junge - kleiner als Shadow noch. Sein hellgoldenes Haar mit dem leicht rötlichen Schimmer war vorne lang und hinten und an den Seiten kurz. Vorsichtig nahm ich das Bild hoch und betrachtete es genauer. Die Gesichtszüge des Jungen waren kantig, seine Kieferlinie war ausgeprägt. Seine grau-grünen Augen wirkten ernst, nachdenklich, so, als würde er alles um sich herum genauestens beobachten.
»Wer ist das?« Ich ahnte die Antwort schon und ein Kloß bildete sich in meinem Hals.
»Mein kleiner Bruder. Jacob.«
Jacob - der Name passte zu diesem scharfen, abgebrühten Blick, fand ich. Seine ganze Haltung auf dem Foto schien zu sagen Ich komme alleine klar. Enttäusche mich nur, es interessiert mich nicht.
Gleichgültigkeit - ja, das war es. Gleichgültigkeit ...
»Ich weiß, auf diesem Bild sieht er ziemlich ... ernst aus, nicht wahr?« Shadow seufzte wieder und als er an mich herantrat, streifte sein Atem meine Wange. Er roch nach Erdbeere.
Ich wollte fragen, woran Jacob gestorben war. Ich wollte fragen, ob das seine Zeichnungen hier waren, ob Shadow wegen ihm sehr traurig war. Ich wollte mein Beileid aussprechen, aber bloß nicht mehr tiefgründiges über ihn erfahren. Dann würde ich um jemanden trauern, den ich nicht gekannt hatte.
»Wie war er?«
Echt jetzt, Sebastian?
Über Shadows Gesicht huschte ein Lächeln, doch nicht traurig - eher belustigt. »Oh, er war ein ziemlich schräger Typ«, begann er und sein Lächeln wurde zu einem Grinsen. »Jacob hatte schon immer eine Verbindung zu Farben und Papier. Glaub mir, mit ihm durftest du an keinem Schreibwarengeschäft vorbeigehen, sonst zerrte er dich hinein und erklärte die die Qualität der Stifte oder die verschiedenen Strichstärken. Manchmal wachte er mitten in der Nacht auf und begann um drei Uhr nachts, zu seiner Heavy-Metal-Musik etwas zu zeichnen. Aber von Partys hielt er nichts, und auch Kämpfe mochte er nie.« Mit einem Mal erstarb Shadows strahlendes Grinsen, und er ließ sich auf das Bett sinken. Sanft nahm er mir das Foto aus der Hand und strich über den von silbernen Rosen gesäumten Rahmen.
»Er war mein kleiner Bruder«, sagte Shadow mit rauer Stimme, ohne aufzusehen. »Bluey, was ich dir eigentlich sagen will, ist: Du solltest die Menschen, die du liebst wertschätzen, bevor sie für immer verschwinden und du sie nie wieder umarmen kannst.« Er hob den Kopf und blickte mir geradewegs ins Gesicht, und das Wissen in seinen braunen Augen erschreckte mich. »Bluey ... Rede mit Igel, was auch immer da vorgefallen ist.«

»Igel!« Keine Rücksicht darauf nehmend, dass es mitten in der Nacht war, riss ich die Tür zum Wohnzimmer auf. Hannah hatte Greeny irgendwie ins Schlafzimmer verfrachtet und war nun bei ihm, und Igel schlief alleine im Wohnzimmer auf einem der Sofas.
Schlaftrunken und mit glasigen Augen hob Igel den Kopf und setzte sich mit einem Stöhnen ein klein wenig mehr auf. »Kleiner«, murmelte er und ich machte schnell wieder das Licht aus, als ich merkte, wie mein Freund die Augen dagegen zusammenkniff.
»Kleiner, es tut ...«
»Nein! Sei leise, verdammt!« Ich blieb leise und schloss die Tür wieder hinter mir, um nervös ein paar Schritte auf Igel zuzumachen und mich vor ihm auf den Boden zu setzen. Es roch immer noch ein wenig nach Alkohol, aber das Fenster war halb geöffnet. Igel zog die Wolldecke enger um seinen Körper.
»Igel, du hast mich enttäuscht, und das weißt du auch. Jedenfalls hoffe ich es für dich.« Ich biss mir kurz auf die Innenseite meiner Wange, dann sprach ich schnell weiter. »Warum hast du das gemacht? Warum hast du dich betrunken? Wenn du mir das sagst, vergebe ich dir.«
Ungläubig sah er mich an, seufzte ergeben und massierte kurz seine Schläfen. »Gut, ich sag's dir«, beschloss er nach ein paar Sekunden. Wieder schwieg er, schien sich kurz in seinen Gedanken zu verlieren.
»Meine Eltern sind getrennt. Sie leben noch, aber als ich drei war, trennten sie sich. Sie waren gute Eltern und hatten immer noch ein freundschaftliches Verhältnis. Aber weißt du, wie scheiße es ist, wenn dein eigener Vater«, er spuckte das Wort mit so viel Verachtung aus, dass ich ein wenig zurückrutschte, »dich missbraucht? Und weißt du, was er gesagt hat? Du darfst niemandem sagen, was wir hier machen, Benedikt. Wir - so, als würde ich das freiwillig mitmachen.«
Erschrocken bemerkte ich, dass sich in Igels Augen Tränen gesammelt hatten, doch er wischte sie eilig fort und wurde wieder etwas ruhiger.
»Weißt du, wie es ist, wenn man bei seinem Vater leben muss, der viele ekelhafte Freunde hat?«, schniefte er. Er vergrub das Gesicht in den Händen und schluchzte leise auf, seine Schultern zitterten. Alles an ihm zitterte, als ich zu ihm hochkletterte und ihn in den Arm nahm, so gut das ging. »Deswegen hast du dich betrunken?«, flüsterte ich.
»Ich wollte ... alles vergessen - nur für ein paar Stunden ...« Igel beruhigte sich langsam, schloss kurz die Augen und lächelte mich dann schwach an. »Danke, Kleiner.«
»Kein Ding«, gab ich ebenfalls lächelnd zurück. Doch das, was Igel mir erzählt hatte, schockte mich mehr, als ich zugeben wollte.
»Igel?« Ich fasste einen Entschluss. Igel hatte mir erzählt, warum er getrunken hatte, also würde ich ihm auch etwas verraten. »Ich will dir was zeigen.«
Er sah mich verständnislos an.
Bevor ich weiter darüber nachdenken konnte, zog ich meine Kapuze herunter.
Ich zeigte Igel mein größtes Geheimnis, meine größte Angst.
In Büchern oder Filmen können die Protagonisten ihren Feind töten und somit ihre Angst - doch was sollte ich schon tun? Mich selber umbringen? Das konnte ich nicht. Und es hatte schon genug Momente gegeben, in denen ich am Brückengeländer gestanden hatte.

Igel schwieg.
Ich senkte den Kopf.
Die Stille drückte sich auf meine Schläfen, bereitete mir Kopfschmerzen.
»Sebastian.« Als Igel wieder redete, lehnte er sich leicht zurück. »Danke.«
In diesem Moment zog Igel eine Augenklappe hervor, und ich habe bis heute keine Ahnung, wo er sie so schnell her hatte.
»Was ...?«
»Für dein Auge«, erklärte er lächelnd. »Damit ich trotzdem deine andere Gesichtshälfte sehen kann.«
Völlig überwältigt nahm ich die Augenklappe an und Igel half mir, sie mir umzubinden. Sie verbarg mein hässliches Auge, und der Stoff war schwarz und weich, beinahe seidig. Ein kleiner Teil der leichenblassen Narbe lugte hervor, aber das war nicht weiter schlimm.
Grinsend hob ich den Kopf und sah Igel glücklich an, irgendetwas sandte ein wildes Kribbeln durch meinen ganzen Körper.
»Mann, Igel. Das ist so ekelhaft kitschig gerade.«

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NARBEN - SO BLAU WIE DER HIMMELWo Geschichten leben. Entdecke jetzt