Die nächsten Tage schaffte ich es nicht aus Bett.
Shadow und Greeny hatten mich zur Wohnung getragen. Einen Krankenwagen zu rufen, wäre zu riskant gewesen, aber wir hatten einen Hausarzt, der eine Vorliebe für illegale Medikamente hatte.
Igels und Darrens Tod verdrängte ich, so gut es ging.
Denk nicht an sie, sagte ich mir. Sie leben.
Es war sehr schwer für mich, im Bett zu bleiben; ich kann nicht anders, als mich zu bewegen. Ich musste etwas tun, um mich abzulenken.
Die meiste Zeit war ich alleine. Greeny musste arbeiten, genau so wie Shadow, und was Robin, Hannah und Two machten, wusste ich nicht so genau. Es war mir egal. Sie würden vermutlich nur versuchen, mir zu erklären, dass Igel und Darren tot waren ... Und das waren sie nicht.
Es war schwierig, einzuschlafen. Im Dämmerschlaf konnte ich mir einreden, dass Igel im Wohnzimmer war und zu mir kommen würde, sobald ich eingeschlafen war. Ich sagte mir, dass ich am nächsten Morgen mit ihm neben mir aufwachen würde.
Denk nicht daran, dass Igel und Darren nie wiederkommen werden.Dann, nach etwa einer Woche, geschah etwas, mit dem ich niemals gerechnet hätte.
Ich hörte, wie es an der Haustür klingelte. Ich hob nicht einmal den Kopf, war viel zu sehr vertieft in Peter Pan.
Ich hörte, wie Greeny und Hannah im Hausflur redeten, eine unbekannte Stimme, die mir dennoch ein wenig bekannt vorkam.
»Basti? Hier ist Besuch für dich«, Greeny steckte den Kopf durch den Spalt der Tür und bevor ich reagieren konnte, öffnete er sie ganz.
Herein kam ein Junge. Dunkelgrauer Hoodie, zerrissene, schwarze Jeans - einer von ihnen.
Moment.
Warte.
Einer unserer Feinde?
Ich blinzelte ungläubig und mein Atem wurde ein wenig schneller, und als ich erkannte, durchfuhr die Angst mich.
Das war der Typ, mit dem ich gekämpft hatte - der dunkelhaarige Junge, der aussah wie eine Hyäne.
»Was- was machst du hier?«, stieß ich anscheinend reichlich geschockt aussehend hervor, denn das Hyänengesicht grinste, wenn auch nicht bösartig. Eher besorgt. Argwohn machte sich in mir breit.
»Hallo«, sagte er, als wären wir alte Bekannte, und setzte sich auf die Bettkante. »Du heißt Bluey, richtig? Du kannst mich Tristan nennen.«
»Tristan?«, murmelte ich und legte vorsichtig das Buch zur Seite. »Okay, aber was machst du hier? Du ... du bist nicht einer von uns. Du hasst uns. Wir haben vor ein paar Tagen auf Leben und Tod gekämpft!«
»Ja, ich weiß«, seufzte Tristan, der Hyänenjunge, und legte die Hände auf seine Knie. Als sein Blick auf ein Foto von Igel fiel, welches auf dem kleinen Schreibtisch gegenüber vom Bett stand, erstarrte er.
»Der Braunhaarige auf den Foto da«, sagte er, »hat der nicht Brooks angegriffen? Ist der nicht selber nach dem Kampf gestorben?«
»NEIN«, sagte ich scharf und richtete mich bis auf jeden Muskel angespannt in meinem Bett auf. »Igel ist nicht tot und er hat Brooks nicht verletzt - ich war es.«
»Aber ...« Tristan kniff die Augen zusammen. »Ich hab's doch gesehen. Dieser Kerl hat Brooks angegriffen, nicht du!«
»Ach ja? Dann bist du wohl blind«, keifte ich, doch bevor ich noch mehr sagen sollte, kam Greeny, der dem Gespräch wohl gelauscht hatte, herein.
»Tristan, du solltest jetzt besser gehen.«
Scheiße scheiße. Igel war nicht tot. Darren war nicht tot.Mitten in der Nacht wachte ich schweißgebadet auf, ohne zu wissen, weshalb. Ich drehte mich auf die andere Seite, aber die Leere des viel zu breiten Bettes ragte so gähnend schwarz vor mir auf, dass mir ein Schauer über den Rücken lief. Nur wenig Mondlicht floss in das Zimmer, also knipste ich schnell die Nachttischlampe an und wischte mir über die Stirn.
Was hätte Igel getan?
Ich würde niemals zulassen, dass die Erinnerungen an ihn verschmutzt wurden. Ab jetzt trug er nicht mehr die Verantwortung für diesen Vorfall - sondern ich.
Ich hatte Brooks angegriffen.
Ich hatte in diesem Kampf so viel Angst gehabt, dass ich ihm kurzerhand das Messer in den Rücken gerammt hatte.
Deine Augen sind seltsam, Kleiner. Ich habe noch nie ein solches Blau gesehen.
Blau ...
Ich wischte mir die Tränen, vermischt mit dem Schweiß weg, kramte mein Handy hervor und gab kurzerhand bei Google ein: Blau.
Irgendwann fand ich eine Erklärung zu der Farbe Blau und ihrer Bedeutung:
Blau stand für die kühlste, tiefste und reinste Farbe, für das Unbewusste und die tiefe Seele und die innere Ruhe. Und für die Sehnsucht einer immateriellen Welt - was auch immer das bedeuten sollte.
Blau.
Blau ...
Ich liebte Igels braune, nach allen Seiten abstehenden Haare, seine warmen, lichtdurchfluteten Augen. Und plötzlich begriff ich, was er wirklich mit dem Satz Bitte vergiss mich nicht gemeint hatte: Ich sollte nicht vergessen, wie er gewesen war. Ich sollte ihn nicht als einen Selbstmörder im Gedächtnis behalten.
Ich nahm das Buch zur Hand, das Igel mir hinterlassen hatte: Gone with the wind. Ich wusste, dass Greeny es hasste, wenn ich im Bett rauchte, doch ich hatte keine Lust, mich an das offene Fenster zu setzen.
Ich begann zu lesen, und die ganze Zeit glaubte ich, Igels Finger auf den Seiten zu spüren.
Ich versank in den Buchstaben und sie wirkten besser als jede Zigarette, obwohl ich nicht besonders gut in Englisch war.Es vergingen Tage, mein Körper erholte sich von dem Kampf und dem Schock. Aber meine Beine waren schwach vom vielen Herumliegen, und allein bei dem Gedanken an Essen war ich kurz davor, mich zu übergeben. Irgendwann schaffte Shadow es, mich aus dem Bett zu zerren - und als ich zum Spiegel taumelte, um mir das Gesicht zu waschen, hielt ich erschrocken inne. Die Augenklappe, die Igel mir geschenkt hatte, trug ich immer noch, aber ich war blass, das Gesicht schmal, beinahe eingefallen, die Augen wie benebelt, das Haar wirr wie das eines Straßenhundes.
Und plötzlich erfasste mich eine seltsame Sehnsucht. Ich wollte hier raus. Wie viel Uhr war es?
Ich sah auf die Uhr, die an der Wand hing. Mittag.
»Shadow«, rief ich, »kann ich raus?«Zusammen mit Shadow, Two und Greeny tappte ich durch die Straßen. Wo die anderen waren, wusste ich nicht, und es war mir auch egal. In den letzten Tagen hatte ich mich von ihnen distanziert. Ich lebte in meinem schwarzen Loch, baute mir meine eigene Realität.
Greeny trank hin und wieder etwas aus seiner Bierflasche, und ich hatte eine Glasflasche mit irgendeiner Brause darin, die mir seltsames Magenblubbern bescherte.
»Hey, du da!«
Ich drehte mich um.
Drei Typen, graue Hoodies und schwarzen Hosen. Ich machte mir nicht einmal die Mühe, sie genauer zu betrachten. Greeny, Two und Shadow hinter mir drehten sich auch um und ich war sicher, dass sie bereits ihre Messer zogen. Aber selbst unsere Feinde waren nicht so dumm, eine Schlägerei auf offener Straße anzufangen.
»Bist du nicht der Junge, der Brooks verletzt hat?«, sagte einer und ich nickte monoton, meine Finger umklammerten die Flasche.
Tristan hatte es ihnen gesagt, obwohl es nicht stimmte. Gut.
»Niemand greift ungestraft unsere Freunde an.«
Der drohende Unterton machte mich wütend - wie konnten sie es wagen, so mit mir zu sprechen? »Genau«, hörte ich mich zischen. Meine Finger, die sich um die Flasche geklammert hatten, ließen nun los und mit meiner ganzen Kraft schmiss ich die Flasche auf den Weg vor mir. Es waren nicht viele Leute auf der Straße, aber die paar blickten mich irritiert an.
Einer der Jungen schrie auf, als einer der Splitter ihn an der Schulter traf. Kurz schienen die Drei unentschlossen, dann blickten sie hinter mich und zogen sich langsam zurück.
Ich beugte mich hinunter und hob eine Scherbe hoch, wischte sie vorsichtig mit dem Saum meiner Jacke sauber.
»Was machst du da, Bluey?«, fragte Shadow atemlos.
»Wonach sieht's aus? Den Müll entsorgen.«
Ich hörte Shadows Grinsen aus seiner Stimme heraus. »Gut so. Umweltbewusst, was?«
»Sebastian.« Als Shadow und Two bereits vorgingen, kam Greeny zu mir und legte mir eine Hand auf die Schulter, sodass ich zu ihm aufsah. Two tat sein Bestes, ihm von den Drogen wegzubringen; sein Gesicht war noch eingefallen, aber er hatte ein wenig zugenommen.
»Sebastian, versuch nicht, so zu sein wie wir. Du bist anders und das ist gut so.
Ich schluckte schwer, als Darrens Worte mir in den Sinn kamen: Du bist gut.
Ich nickte langsam, mein Ton war barscher als beabsichtigt. »Danke, Greeny. Geh vor, ich komme gleich nach.«
Es dauerte ein wenig, bis ich meinen Herzschlag beruhigt hatte, erst dann lief ich ihnen nach.
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NARBEN - SO BLAU WIE DER HIMMEL
Novela Juvenil»Was ist dein größter Traum?« »Ich habe keinen Traum.« »Traust du dich nicht, zu träumen?« »Nein. Ich träume nicht, weil Träume eh nie in Erfüllung gehen.« Sebastian ist gerade einmal dreizehn, als er aus dem Heim, in dem er seit seinem siebten Lebe...