Sie umkreisten uns, umzingelten uns, versperrten jede Fluchtmöglichkeit. Wie die Wölfe auf der Jagd waren sie, schlichen leicht geduckt, ihre Schritte nur ein leises Trippeln auf dem regennassen Pflaster.
Mein Herz pochte in meiner Brust, ich drängte mich an Igel und Greeny. Kämpfen. Ich wollte nicht kämpfen.
Nicht auf diese Art ...
»Braucht ihr einen Haarschnitt?«, wiederholte der Größte von ihnen erneut, diesmal mit einem knurrenden Unterton. Sie richteten sich langsam auf und dabei rutschten ihnen die Kapuzen von den Köpfen.
Ich erinnere mich an ihre Gesichter. Sie waren jung. Alle mindestens zwei Jahre älter als ich, doch ihre Augen waren dunkel. Sie ertranken im Hass, waren schon lange nicht mehr mir der kalten Schärfe gefüllt, wie Dallas' Augen.
Dallas. Was hätte er wohl getan, wäre er hier gewesen?
Aber er war nicht hier. Wir waren auf uns alleine gestellt.
Sechs gegen Acht.
War das fair?
Ich kniff meine Augen zusammen und unterdrückte ein Zittern, meine Hand wanderte beinahe unbewusst zu dem Messer in der Bauchtasche meines Hoodies. Gleichzeitig achtete ich darauf, keine hektische Bewegung zu machen. Die Socs kamen mir vor wie Tiere. Wie wilde, reißende Tiere, immer hungrig und nur darauf wartend, dass ihre Opfer einen falschen Schritt machten.Der Größte, der bis jetzt gesprochen hatte, war dünn, mit langen Beinen in einer engen Hose, die so zerrissen war, dass bestimmt die Hälfte fehlte. Er trug, genau so wie alle anderen, einen dunkelgrauen Hoodie. Alles an ihm wirkte finster: das blauschwarze, bestimmt gefärbte Haar, die schwarzen Augen.
»Gut«, sagte er mit einem kalten Lächeln und seine Finger umschlossen sich ein wenig fester um den Griff seines kleines Schnappmessers, »wir haben lange genug gewartet. Dann dürft ihr euch eben keine Frisur aussuchen.«
Ich hätte am liebsten irgendetwas Schlaues von mir gegeben, aber dafür war keine Zeit mehr.
Sie waren wirklich wie Tiere. Beinahe ohne einen Laut warfen sie sich auf uns, aber der Kampf blieb nicht lange so leise.
Schon war die Luft erfüllt von Schreien, gebrüllten Befehlen oder schmerzhaftem Aufkeuchen.
Ich selber war kurz wie erstarrt, wie immer, wenn ich erschrocken war, doch dann versuchte ich, dem Geschehen mit ein paar Schritten zu entkommen. Ja, ganz richtig. Ich versuchte, vor diesem Kampf wegzulaufen.
»So leicht kommst du nicht davon!«
Eine Hand riss mich so grob an der Kapuze zurück, dass ich taumelte, gleichzeitig nach Luft röchelte und mich dann wieder fing - aber bevor ich reagieren konnte, landete ein harter Schlag in meinem Magen. Ich krümmte mich, machte einen schwachen Schritt zur Seite, und bereits jetzt tanzten schwarze Punkte vor meinen Augen.
Ich hatte gedacht, ich wäre stark, nur weil ich im Heim hin und wieder ein paar Ohrfeigen bekommen hatte. Ich hatte mich geirrt, ich war schwach.
»Ha!« Der Junge lachte hämisch auf. Dunkelgrau gefärbte Haare, die am Ansatz dunkelbraun nachwuchsen und amüsiert schwarz glitzernde Augen. »So ein Schwächling!«
Eine lange Narbe war auf seiner Stirn, und mit diesem Gesichtsausdruck kam er mir vor wie eine Hyäne.Du bist nicht stärker, nur weil du mich schlägst.
Diese Worte wollte ich ihm in sein Gesicht spucken, aber stattdessen zog ich mein Messer und packte seinen Arm. Ich hätte ihn nie geschnitten, niemals. Es genügte mir, die plötzliche Angst auf seinem Gesicht zu sehen. Die selbe Angst, die ich fühlte. Ich riss das Messer hoch und der Stoff seines Hoodies riss mit einem lautschen Ratschen.
»Ich würde dir raten, nicht zu viel zu riskieren.« Mir wurde übel von meiner eigenen Drohung. Klar, ich hatte schon die eine oder andere Schlägerei hinter mir - wer nicht? Aber das war in der Grundschule gewesen und immer nur kleine Zweierkämpfe hinter der Schule, ohne Messer oder so etwas. Es war nie um Leben oder Tod gegangen.
Ich habe schon viel gelesen; wie der Protagonist im Kampf alles um sich herum vergisst, vergisst, dass er sterben könnte, vergisst, wer derjenige vor ihm ist, oder nur an seine Freunde denkt.
Nichts davon stimmt. Wenn man kämpft, tut man das alleine. Man denkt nur an sich selber und daran, zu überleben.Ich erkannte schon recht bald, dass meine Überlebenschance so gering war wie die einer Ratte.
Die anderen waren geübter, trainierter, stärker. Xander konnte am ehesten mit ihnen mithalten - gerade verpasste er einen von ihnen einen Knuffer mit dem Ellenbogen, der ihn zurückwanken ließ, und hielt einem anderen drohend die Klinge seines Messers entgegen. War das Blut an der Spitze?
Shadow hielt sich nah bei seinem Bruder, während Two von drei weiteren Typen attackiert wurde, aber Greeny half ihm schnell. Der Junge, mit dem ich gekämpft hatte, hatte sich aus dem Staub gemacht - anscheinend war ich ihm zu langweilig geworden.Und Igel?
Ich erinnerte mich erst an ihn, als ein lautes Kreischen aus einer kleinen unbeleuchteten, engen Gasse ertönte.
Ein Schrei, der mir das Rückgrat hochjagte.
Das war ein Schmerzensschrei gewesen, wurde mir klar.
Ein Todesschrei.
Igel?
Shadow, Xander, Greeny, Two, die anderen - sie alle hielten inne und eilten dann zu der Gasse, als hätten sie ihre Feindschaft vergessen. Jeder vermutete, einen von ihnen tot vor zu finden.Meine Augen wollten nicht glauben, was sie sahen. Das konnte nicht sein ...
Igel, der mit einem blutverschmiertem Messer über einem dunklem, in sich zusammengefallenem Bündel stand.
Der Tote hatte blauschwarzes Haar und lag zusammenkrümmt da, Blut tränkte seinen Hoodie am Rücken, sein Gesicht konnte ich nicht erkennen.
Der vorlaute Junge, der mit einem ,Haarschnitt' gedroht hatte.»Nein!« Ein kleiner Junge, etwa so alt wie ich, erwachte als erstes zum Leben und stürzte zu dem verkrampften Körper. Sein herzzerreißendes Schluchzen hallte von den Wänden der Gasse wider. Unsere Gegner wirkten auf einmal kein bisschen wie Tiere. Verloren stand der Rest von ihnen da, geschockt, versteinert.
Igels Blick lag fassungslos auf seinen eigenen Händen.
Die Hände, die mich so oft berührt hatten, hatten nun das Blut eines vermutlich toten Menschen an sich kleben ...
Was soll das, Sebastian? Er war nur ein dummes Kind! Als ich mich bei diesem Gedanken erwischte, schüttelte ich schnell den Kopf. Er war ein Idiot gewesen, na und?
Ich erinnerte mich an diesen Schrei von vorhin, der den Kampf gestoppt hatte.»Bluey, komm! Schnell!« Shadow zog mich mit einem Zischen schnell weg vom Eingang der Gasse, aber ich sträubte mich, riss mich los und blieb stehen. Xander ging zu Igel und zog ihn ebenfalls schnell weg, aber Igel stolperte und bei dem dumpfen Geräusch des Körpers, der dadurch halb zur Seite gerollt wurde, zuckte ich zusammen.
Diese Augen ...
So tot und leer. Kalt.»Bluey, was soll das, verdammt?«
In dem Moment, als Shadow mich abermals zurückzog, hob der kleine Junge bei dem Verletzten den Kopf. Mein Atem stockte. Obwohl er dreckiger war als auf dem Foto und ich dieses nur kurz gesehen hatte, erkannte ich ihn doch sofort. Die gelockten, schwarzen Haare trug er genau so wie sein Vater, die kleinen Sommersprossen waren Dank seiner Blässe nur allzu deutlich zu sehen, und die bernsteinfarbenen Augen, jetzt matt und voller Trauer - unverkennbar.
Leskan, Andrés Sohn.
»Komm jetzt, Bluey! Wir müssen hier weg, bevor die ihren Kumpel rächen wollen!«
Benommen taumelte ich Xander, Shadow, Greeny, Two und Igel nach. Wir alle schwiegen, als es anfing zu schneien. Es war nur Shadows Stimme zu hören, die mit dem Notruf sprach. Doch das klang weit, weit entfernt.
Vorsichtig schob ich mich zu Greeny vor. »Weißt du, wie ... wie er hieß ...?«
Greenys Stimme war seltsam hohl. »Brooks«, antwortete er. »Sein Name war Brooks. Glaub mir, die werden ihn nicht vergessen.«
Mit einem bitteren Lächeln kickte er einen kleinen Stein weg.»Glaub mir, Sebastian, jetzt hat der ganze Scheiß erst angefangen.«
DU LIEST GERADE
NARBEN - SO BLAU WIE DER HIMMEL
Fiksi Remaja»Was ist dein größter Traum?« »Ich habe keinen Traum.« »Traust du dich nicht, zu träumen?« »Nein. Ich träume nicht, weil Träume eh nie in Erfüllung gehen.« Sebastian ist gerade einmal dreizehn, als er aus dem Heim, in dem er seit seinem siebten Lebe...