Tagebucheintrag (1 Jahr, 10 Monate vor dem Mord)

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Auszug aus dem Tagebuch von Masch K[...], Eintrag vom 16. Juni 2027, (1 Jahr, 10 Monate vor dem Mord):

Ich schlafe in letzter Zeit bei Spring. Bei Spring ist das mit den Alpträumen nicht so schlimm. Hab ich gedacht.

 Weil ich nicht schlafen kann, sehe ich aus dem Fenster. Ich lausche der nächtlichen Symphonie einer wohlsituierten Gegend. Wind, ein Auto, eine Nachtigall. Als ich eine Hand in meinem Haar spüre, denke ich natürlich, dass es Spring ist. Es ist seltsam, dass sie noch wach ist. Eigentlich hat sie einen sehr gesunden Schlaf. Ich greife nach hinten und ihre Hand ist winzig klein und grabeskalt.
Ich drehe mich um. Hinter mir liegt statt Spring ein Mädchen, dass etwa 13 Jahre alt ist mit schwarzen schulterlangen Haar. Ihre schwarzen Augen sind so weit aufgerissen, als wir uns ansehen, als hätte sie keine Augenlider. Sonst ist ihr Gesicht ganz entspannt. Haut grau wie Asche. Immer noch sehr entspannt öffent sie die Lippen weit. Sie will nicht heraus oder herein lassen. Sie macht einfach nur den Mund auf. Trotzdem dringen aus ihrem Mund Laute. Ein Baby schreit. Erst ganz leise. Dann immer lauter, bis es mir in den Ohren weh tut.

Mir ist, als würde ich sie kennen. Ich versuche ihren Namen zu sagen. Er klingt wie Blumen und Morgentau und nach etwas, das ich einmal sehr geliebt habe. Als ich kurz davor bin mich zu erinnern, wache ich auf.

 Bisher habe ich nicht das Gefühl, dass das mit dem Aufschreiben hilft. Aber ich muss mich vielleicht zwingen, es auch regelmäßig zu machen.

 Heute Nachmittag habe ich Yamas Freund kennen gelernt. Zu meiner Schande gestehe ich hier, dass ich etwas befangen war, als ich mitbekam, dass er offenbar schwul ist. Ich hätte beide Hände dafür ins Feuer gehalten und geschworen, dass mir solche Dinge egal sind. Schließlich habe ich ja selbst schon mit Männern geschlafen, wenn auch nur für Geld. Aber das über ihn zu wissen, hat aus meinem Freund Yama irgendwie einen Anderen gemacht. Das möchte ich dringend ablegen.

 Auf jeden Fall bin ich ziemlich fasziniert von Yamas Freund. Wir hatten uns heute zum Essen getroffen und weil ich darum gebeten hatte, brachte Yama ihn mit. Sein Name ist Dakota und er sieht irgendwie aus als wäre er einem postmodernen Film Noir entstiegen. Was nicht einmal so sehr an seiner Kleidung liegt. Seine Haare sind weiß gefärb. Der vordere Teil ist etwas kinnlang und umrahmt sehr hübsch sein ernstes Gesicht. Den längeren Teil hatte er hinten zu einem Zopf zusammengefasst. Er war relativ schlicht gekleidet, viel schwarz und grau, wobei er mehr Betonung auf seine dünnen Beine, als auf seinen Oberkörper legte. Das ließ ihn irgendwie elegant aussehen. Dafür trug er ziemlich viele, auffällige Ringe, siber-grün lackierte Nägel und einen seltsamen schwarzen Schlapphut aus Leder. Was mich aber mehr beeindruckte, war sein Gesicht und sein Habitus. In seinem Gesicht ist alles irgendwie sehr perfekt. Ebene Nase, schön geformter Mund mit einem Piercing mittig unter den Lippen, als müsste er die vollendete Symmetrie seines Gesichtes noch unterstreichen. Außer zwei unfassbar tiefe Grübchen in den Wangen, die ihn beim Lächeln seltsam verrückt ausssehen lassen. In den Blau seiner fast wimpernlosen Augen, war etwas distanziert Depressives. Als wäre er mit dem Kopf noch nicht ganz bei uns.

 Er hielt mir mit einem kaum spührbaren Lächeln die Hand hin. Ich ergriff die Finger, die eiskalt und gelb vom Nikotin waren.

 Beim Essen stellte sich heraus, dass Dakota nicht ganz so verklemmt war, wie der erste Eindruck vermittelte. Tatsächlich flucht er ziemlich viel, was irgendwie nicht zu seiner schönen, sanften Stimme passen will. Selbst bei dem spärlichen Sortiment der Suppenküche war er höchst wählerisch und schickte Yama immer wieder fragen, ob der Reis wirklich aus 47892 kommt oder auch in den Gewürzen wirklich keine Glutamate enthalten wären. Obwohl die Auskunft wirklich nicht zufriedenstellend waren, bestellt er etwas. An Gesprächen beteiligte er sich kaum. Wenn er mal etwas sagte, dann war es nicht wirklich von Tiefe oder Geist. Manchmal schien es sogar überhaupt gar nicht zum Thema zu passen.

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