Auszug aus dem Tagebuch von Masch K[...], (1 Jahr, 4 Monate vor dem Mord):

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[Fotografie von Dakota A[...]. Er steht seitlich zum Fotografen und ist über eine Reihe von Piercing-Besteck gebeugt. Sein Blick ist entspannt, aber konzentriert. An den weißen Handschuhen, die er trägt ist helles Blut. Um ihn herum scheint alles sehr klinisch weiß und steril zu sein. Er hat einen schwarzen Mundschutz um den Hals gehängt und die Haare locker zusammengebunden. Er trägt ein schwarzes HardRock Café Shirt und viele bunte Armbänder. Darunter steht mit schwarzem Stift geschrieben: Dr. Jekyll? Mr. Hide?]

Heute habe ich etwas Wichtiges gemacht! Wie viele wichtige Sachen, ist es relativ spontan passiert. Dako hatte erwähnt, dass Jemanden die Zunge spalten wollte, aber der hat dann doch Schiss bekommen und abgesagt.

„Voll beschissen ist das!“, beschwerte er sich, während wir versuchten mit Riku Schritt zu halten, der wie unter immensen Zeitdruck durch die Straßen rannte. Ohne sich nach uns umzudrehen, bog er dann immer Mal in diese oder in die andere Gasse ein, während Dako und ich ihm nach eielten. Irgendwann nahm ich Dako's Hand, um ihn nicht zu verlieren.

„Aha!“, keuchte ich nur, während ich Dako hinterherzog. Er schien es gar nicht einzusehen, wegen Riku sein Tempo nur um einen einzigen Schritt zu beschleunigen.

„So ein Splitting gehört mitlerweile zum Piercing-Standart! Alle haben das in ihrem Portfolio! Eine Kollegin von mir hat sogar einem Typen die gesamte Eichel voller Piercings gemacht oder einen Ring unter die Haut vom Finger oder die Augäpfel tattoowiert. Und meine Bewerbungsmappe ist voller Ohrlöcher und Bauchnabelpiercings und so langweiliges Zeug!“

„Was ist denn mit dem Typen, den du letzten Tattoowiert hast? Den mit dem 'Iss mich'-Mädchen...“

Ich hielt Dako fest, bevor auf die dicht befahrene Straße lief. Neben uns hibbelte Riku nervös, während wir darauf warteten, dass sich im Verkehr eine Lücke für uns auftat.

„Das hast du dir gemerkt?“, Dako sah mich erstaunt an; „Das ist doch ewig her!“

Ein kurzes Achselzucken war die Antwort: „Ich vergesse Nichts, was ich nicht vergessen will.“

„Kommt, kommt!“, rief Riku und hetzte wieder voraus.

Ich ergriff erneut Dakos Hand und beeilte mich Riku nicht aus den Augen zu verlieren. Währendessen erleuterte Dako mir weiter die Sackgasse seiner jungen Karriere: „Ja, der Typ war cool! Aber es war ja nicht meine Idee mit dem Tattoo... Die hat er aus dem Internet. Außerdem würde es mit den Sachen der Anderen nur mithalten können, wenn ich es ihm in die Augen gestochen hätte... oder auf den Stumpf von seinem amputierten Schwanz.“

„Da wäre der Typ mit der gespaltenden Zunge auch nicht rangekommen.“, erwiederte ich leicht lachend.

Wir bogen noch einmal in eine Straße des Einkaufsviertels ein, die voller gelb und rosa gestrichener Fachwerkhäuser war. Arm in Arm flanierten Pärchen oder Freundinnen an uns vorbei. Die Blicke, die Preise in den Schaufenstern und der saubere Gehweg gaben uns mehr als eindeutig zu verstehen, dass wir hier nichts zu suchen hatten. Das Fenster vor dem wir stehen blieben, zeigte einen großen, weichgepolsterten Innenraum, in dem winzige Katzenbabys miteinander spielten und schliefen. Auf der anderen Seite sah man dasselbe mit Kanninchen. An der Decke des Ladens hingen kleine blaue Vögel in prachtvollen Käfigen. Riku richtete seinen Blick auf die Kätzchen:

Wovon wir leben und woran wir sterbenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt