Chapter 5

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,,Deshalb bitte ich Sie alle inständig von jeglichen Spekulationen und Verdächtigungen Abstand zu nehmen.", dachte ich. Es waren die Worte unserer Direktorin. Sie hatte uns darum von etwas über einer Woche gebeten -vielleicht waren es auch beinahe zwei Wochen, ich hatte das Gefühl mein Zeitgefühl verloren zu haben, so wie ich eine meiner Freundinnen verloren hatte. Jedoch glaubte ich, dass sich niemand daran hielt. So kam es, dass ich mit zittrigen Händen die Tür zum Haupteingang meiner Universität öffnete.

Auf dem Flur in der ersten Etage traf ich auf Daria, eine meiner Mitschülerinnen. Am liebsten hätte ich auf dem Absatz kehrt gemacht, denn ihr Blick war abwertender denn je. Für gewöhnlich musterte sie mich mit einem Hauch von Missgunst, aber an diesem Tag war es anders. Mir war selbstverständlich bewusst, was ihr bei meinem Anblick durch den Kopf ging. Sie ging dicht an mir vorbei, sodass ich ausweichen musste, um sie nicht anzurempeln. Vielleicht tat sie dies, um ihre Dominanz darzulegen, aber ich ging nicht darauf ein und hatte es nach wenigen Minuten vergessen.

Ich hatte mein Script aus meinem Schließfach geholt und befand mich nun in einem der Theatersäle, die die Universität nutzte. Noch war niemand da, obwohl der Kurs bereits in zehn Minuten begann. Unwillkürlich dachte ich an dunkle Szenarien, die sich in den nächsten Sekunden abspielen könnten. Meine eigenen Gedanken machten mir Angst. Das einzige, was mich von einer Panikattacke abhielt, war das Licht, welches bereits brannte. Ich ließ mich im Zuschauerraum in der ersten Reihe nieder und las mich in das Script ein. Zu lange hatte es einfach nur herumgelegen. Ich konnte mich nur an wenige Zeilen erinnern.
,,Valeria", erschrocken fuhr ich herum und hatte Mühe mich auf dem Stuhl zu halten.
Das Licht, welches mich eben noch beruhigt hatte, blendete mich jetzt und schien mir einen Streich spielen zu wollen. Kurz fühlte ich mich wie gelähmt, schaffte es aber nach einigen Sekunden mich aus dieser Paralyse zu befreien. Allen Ernstes hatte ich gedacht, Brianna würde vor mir stehen. Stattdessen befand sich Mrs. Randall nun direkt vor mir.
Der Schock ließ nach und ich musste unwillkürlich lachen. Mein Lachen wurde lauter und erfüllte schon bald den ganzen Theatersaal. Mir war klar, dass die Situation auf Mrs. Randall merkwürdig wirkte.
,,Tut mir Leid, ich wollte Sie wirklich nicht erschrecken.", sagte sie -zu meiner Überraschung- sehr ruhig.
Ruckartig lachte ich nicht mehr.
Mit einem kurzen Nicken signalisierte ich, dass ich ihre Entschuldigung gehört und angenommen hatte.

,,Liebe Studentinnen und Studenten, mir ist klar, dass Folgendes nicht leicht für Sie wird. Für mich ist es das auch nicht. Nichtsdestotrotz haben wir nachwievor den Auftrag unser Stück 'Frühlings Erwachen' aufzuführen. Uns allen ist klar, dass das ohne unsere Hauptrolle nicht möglich sein wird. Daher möchte ich zunächst alle, die noch keine, oder nur eine kleine Rolle im Stück haben, bitten sich zu melden.", kündigte Mrs. Randall an und kurz hatte ich das Gefühl Tränen in ihren Augen gesehen zu haben.
Schließlich zeigten drei Mädchen auf. Eine von ihnen war ich, doch ich meldete mich nur zaghaft. Mrs. Randalls Blick überflog uns alle und ich hatte das Gefühl, dass er an mir hängen blieb. Automatisch sah ich sie beinahe flehend an. Ich wollte die Rolle nicht, denn ich hatte das Gefühl, niemand würde mehr an meine Unschuld glauben. Man würde insgeheim glauben, dass ich die Tat begangen hatte, um an die Rolle zu kommen. Abgesehen von dem Fakt, dass ich nie in der Lage gewesen wäre einen Menschen umzubringen, war es keine besonders wichtige Aufführung, bei der es sich lohnte eine der führenden Rollen zu ergattern. Es wäre kein Motiv. Aber darüber schien niemand nachzudenken.
,,Waleska, ich begrüße Sie. Bitte setzen Sie sich.", Mrs. Randall riss mich aus meinen Gedanken.
,,Fahren wir fort", Mrs. Randall hatte wieder unsere volle Aufmerksamkeit, ,,Laura, könnten Sie sich vorstellen die Rolle anzunehmen?"
Ich atmete kaum merklich auf.
,,Ja, es wäre mir eine Ehre. Vielen Dank.", entgegnete Laura.
Warum sagte man ihr nichts Böses nach? Ich wünschte es ihr nicht, und begann mich selbst für diesen Gedanken zu hassen, aber dennoch fragte ich mich, warum man mir so etwas zutraute. Zumindest ging ich davon aus, dass man es mir zutraute, auch wenn ich nur geringe Anzeichen dafür erkennen konnte. Ich war hin und her gerissen, als Mrs. Randall mich erneut aus meinen Gedanken riss, da sie mich ansprach:
,,Valeria, würden sie gemeinsam mit Waleska die Koordination übernehmen? Ich glaube, seit dem Vorfall ist es besser diese Aufgabe an Sie beide zu verteilen, damit die psychische Belastung nachlässt."
,,In Ordnung, Mrs. Randall", wisperte ich und nickte zusätzlich, da ich sicher sein konnte, dass die Dozentin meine Antwort nicht hören konnte.

Schließlich probten wir das Stück und kamen sogar so weit, dass wir es komplett durchspielen konnten. Zwar las Lauren ihren Text beinahe vollständig ab, ich musste aber dennoch zugeben, dass sie der bestmögliche Ersatz für Brianna war. Ersatz. Es klang so bösartig, so als hätte man sie bereits vergessen. Aber irgendetwas in mir sagte, dass wir Brianna niemals vergessen werden können.

Another way [slow updates]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt