Prolog

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17. September 2010

Ein kleines Erdbeben erfasst meinen Körper, als sich das Passagierflugzeug ruckelnd in Bewegung setzt. Ich ignoriere die lauten Geräusche und lasse mich tiefer in den weichen, bequemen Sitz sinken, müde von den Gedanken, die seit Stunden, nein seit Tagen meinen Kopf fluten.

Ich schließe die Augen und sehe dich. Deinen Blick, mitternachtsblaue Augen, die so sehnsuchtsvoll drein blicken, dass sich mein Herz schmerzhaft zusammenzieht. Ich will das nicht, kann es nicht, und doch tue ich nichts dafür, damit dieses Bild endlich aus meinem Kopf verschwindet. Ich könnte die Lider öffnen, stur aus dem kleinen Fenster, hinunter auf die so winzig ausschauende Welt blicken. Aber ich tue es nicht, weil ich weiß, dass ich selbst dann immer nur dich sehen würde.

Kann man lernen, zu vergessen? Ich habe mir diese Frage in den letzten Tagen und Stunden so oft gestellt und doch nie eine eindeutige Antwort bekommen. Vielleicht, irgendwann? Aber was ist, wenn mir irgendwann einfach zu spät ist?

Mein Blick wandert nach rechts. Auf dem Platz neben mir sitzt eine Frau, hübsch und kaum älter als du. Sie schaut dir ähnlich, irgendwie, und irgendwie auch wieder nicht. Bisher ist mir noch nie jemand begegnet, der auch nur annähernd eine so fesselnde Ausstrahlung, eine so anziehende Präsenz hat wie du. Du brauchtest nicht ein Wort sagen, allein dich zu sehen war Magie genug. Vielleicht ist das auch der Grund, warum ich nie von dir loskam. Es auch heute nicht kann.

Es sind ihre Haare. Langes, goldblondes Haar, das in samtigen Wellen auf ihre Schultern fällt. Wie deine, und doch anders. Ich erinnere mich an deine wilden Locken und wie ungern du sie mochtest. Dabei waren sie das Allerschönste an dir. Wie oft saß ich nackt auf deinem Bett, starte deinen entblößten Rücken an und beobachtete dich dabei, wie du deine wilden Haare zu eben diesen samtigen Wellen bändigtest. Und wie oft bat ich dich darum, sie so schön ungestüm zu lassen.

Die unbekannte Frau neben mir, eben noch vertieft in ein dickes Buch, das auf ihrem Schoß liegt, hebt ihren Blick und schaut mich an. Sie trägt einen trostlosen Ausdruck in den Augen und ich erkenne sofort, dass sie nicht ist wie du. Dass niemand sein kann wie du.

Ich murmel ein leises, kaum verständliches Entschuldigung, als mir bewusst wird, wie sehr ich diese Frau angestarrt haben muss. Ich drehe den Kopf, schaue hinaus aus dem Fenster und sehe doch nur dich.

Wann werde ich dieses Bild nur endlich los?

Das hier soll ein Neuanfang werden, der erste Schritt in ein Leben, wie ich es mir immer erträumt habe. Es fühlt sich gut an, dieses Abenteuer zu wagen. Irgendwie beängstigend, und doch aufregend. Eine Mischung aus bitter und süß. Auch wenn sich alles in meinem Körper schmerzlich zusammenzieht, bei dem Gedanken daran, welchen Preis ich dafür zahlen muss. Aber vielleicht soll es so sein. Denn gibt es nicht für alles im Leben einen Grund?

Ab heute werde ich in Schweden leben und arbeiten, ohne dich. Es ist mein Heimatland, und doch frage ich mich, wie es für mich Heimat werden soll, wenn du nicht da bist, nicht mit mir kommst. Wie soll ich ohne dich glücklich werden, wenn du doch immer mein einziges Glück warst. Ich dachte, du wärst es leid, dieses Leben. Dieses so schrecklich perfekte Leben, dass du nie wolltest.

Ich schüttel den Kopf, unbewusst, und erinnere mich innerlich daran, dass ich kein Recht habe, es auch nie hatte, darüber zu urteilen. Ich glaube dich zu kennen, aber vielleicht tat ich das ja nie. In den letzten Wochen habe ich so vieles angezweifelt, hunderte Male hinterfragt. Vor allem unsere gemeinsame Zeit, auch wenn sie so schrecklich schön war. Vielleicht tat ich es gerade deswegen.

Du warst die erste Frau, in die ich mich je verliebt habe. Habe ich dir das jemals gesagt?

Durch dich sah ich die Welt plötzlich mit anderen Augen. Irgendwie klarer, und doch so verschwommen, dass ich manchmal Angst bekam, ich könnte plötzlich verlernen, wichtige Dinge zu sehen. Ich weiß, das muss absurd in deinen Ohren klingen, aber so war es. Und so ist es noch immer.

Weißt du, ich glaubte immer an die große Liebe, aber nie daran, dass sie mir tatsächlich eines Tages begegnen könnte. Und dann standest du dort, mit diesem roten, hautengen Kleid, warst die pure Verführung. Und selbst wenn ich mich hätte wehren wollen, wäre es sinnlos gewesen. Sinnlos, weil du mein Herz bereits in deinen Händen trugst, nur eine Augenblick nachdem ich dich zum ersten Mal sah. Es war Liebe auf den ersten Blick, das weiß ich heute. Und ich weiß, dass dieser Gedanke, diese wahre Liebe könnte für ein „Für Immer" bestimmt sein, nur eine Illusion war.

Eine Stewardess reißt mich aus meinem Gedankengang. Sie fragt mich, ob ich etwas trinken oder essen wolle. Ich verneine, schüttel den Kopf, wissend, dass mein Körper gegen meine Antwort rebelliert. Aber ich kann nichts essen, seit Tagen schon nicht. Ich quäle es mir nur hinunter.

Es fällt mir so schwer, dich gehen zu lassen. Es scheint, als wolle mein Herz nicht begreifen, dass du fort bist. Dass du es für immer bist. Seit Tagen und Wochen geht es mir so. Seit Tagen und Wochen weine ich um dich, seit Tagen und Wochen frage ich mich, ob es für all das einen Sinn gibt, eine Bestimmung, irgendeine Erklärung.

Vielleicht, ganz vielleicht, sollte es tatsächlich so kommen. Vielleicht sollten wir uns begegnen, uns verlieben, uns trennen. Obwohl unsere Beziehung zueinander immer anders war, schön anders, und ich bis heute nicht weiß, was ich dir tatsächlich bedeutet habe. Du hast es mir so oft gesagt, ja, aber du hast dich ja doch gegen ein uns entschieden. Es sei besser für mich, sagtest du. Wir spürten das, was man Liebe nennt. Wir lebten eine Liebe ohne Zwang und Hüllen, und doch war sie nie stark genug, nie mutig genug. Wir hatten nie eine Chance, das weiß ich jetzt.

Ich wünschte, wir hätten uns anders kennengelernt. Zu einer anderen Zeit. An einem anderen Ort. Unter anderen Bedingungen.

Ich muss jetzt aufhören. Muss dich gehen lassen, mich von dir befreien. Auch, wenn ich noch immer nicht weiß, wie ich das schaffen soll.

Vergessen werde ich dich wohl nie, aber vielleicht ist das auch nicht der Sinn. Mir bleiben nur Erinnerungen. Erinnerungen, die verblassen werde. Vielleicht verblassen sie mir dir.

Du, die meine Liebe des Lebens war.

In Liebe,

Maja.

Ich setze den Stift ab, falte den Brief zusammen, sorgfältig, Ecke auf Ecke. Dann lasse ich ihn in meine Handtasche verschwinden, wissend, dass er wie all die anderen Briefe ungelesen in ihrem Kamin enden wird.

Forgotten LoveWo Geschichten leben. Entdecke jetzt