Kapitel 1 - die Ankunft

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Die Stille im Zugabteil war erdrückend. Keine Menschenseele war weit und breit zu sehen. Seit einigen Stunden, sass ich schon hier. Mit der Zeit waren alle anderen Passagiere ausgestiegen. Nun war ich also ganz alleine und konnte mir auch nicht mehr mit den Gedanken der Menschen die Zeit vertreiben. Ich war auf dem Weg nach Amsterdam, um meine Grossmutter zu besuchen. Sie wohnt ganz alleine in einem kleinen Dorf, am Rande der Stadt. Eine ältere Dame wie sie, sollte sich doch einsam fühlen, denkt man sich wohl. Doch das tat sie nicht, denn sie hat alles was sie braucht. Nicht wirklich, aber sie gibt sich mit allem zufrieden, was sie besitzt. Das einzige, was ihr wirklich am Herzen liegt, ist Tommy, ihr kleiner Labrador. Sie besitzt ihn noch nicht lange, erst seit mein Grossvater verstorben ist. Ich kannte ihn nicht gut, in der Zeit, in der er noch da war, hat meine Mutter mir selten erlaubt meine Grosseltern zu besuchen. Den Grund dafür kannte ich nicht, aber da war ich noch jung und habe nicht verstanden, wie wichtig es gewesen wäre. Seitdem komme ich in jeden Ferien her. Ich liebte diesen Ort so sehr, endlich mal raus aus der Stadt und einfach mal die frische Landluft geniessen. Zusammen mit meiner Mutter wohne ich schon seit ich klein bin in Düsseldorf. Ich kannte kaum eine andere Umgebung. Meinen Vater jedoch, habe ich nie kennengelernt. Aussenstehende Personen würden sagen, dass wir zwar eine kleine, aber dennoch normale Familie sind, doch das stimmte nicht. Wir waren alles andere, als normal.

Ich, sowie viele anderen in meinem Familienkreis, besitzen eine Gabe. Wir nennen uns die animo lectorem, was die Bedeutung des Gedankenlesens trägt. Ja ich kann es, die Gedanken von anderen Menschen lesen. Im ersten Moment scheint es nützlich, aber mittlerweile weiss ich schon beim Anblick der Menschen was sie denken. Daraus mache ich oft kleine Spielchen. So was wie "Versuche herauszufinden was die Person denkt" oder "finde ihre tiefsten Geheimnisse". Es war das langweiligste Spiel was mir überhaupt hätte einfallen können. Aber ich hatte keine Freunde, weder noch irgendjemanden mit dem ich mich gerne unterhalten hätte. Also blieb ich einfach still und liess mir nicht anmerken, dass ich genau wusste, was die Menschen über mich dachten. "Die ist doch verrückt" oder "Die Arme, wohnt bei so einer Familie!". Diese Sätze habe ich schon so oft gehört. Das war mein Alltag, alles ganz normal.

Insgesamt gibt es vier Gaben. Wir, die animo lectorem, waren eine davon. Die Gedankenleser. Dann gab es da noch die loqui animalis, welche mit Tieren sprechen können. Die motus imperium, welche Telekinese beherrschen. Und schliesslich die, die mich am meisten faszinierten, die tempus viatorem. Sie konnten in der Zeit reisen. Am liebsten hätte ich diese Gabe gehabt, aber man konnte sich das nicht aussuchen. Die verschiedenen Gaben werden in den Familien von Generation zu Generation weitergegeben, aber es gibt immer einige, die keine Gabe erhalten und dann einfach ganz normale Menschen sind. Sowas erkennt man nicht so schnell, denn die Gabe muss man zuerst für sich selber entdecken. Meine Mutter hat ihre Gabe nie gefunden, meine Grossmutter hat immer gesagt sie wollte es gar nicht und hätte sie absichtlich nie aktiviert. Aber ich denke es war bei ihr nun mal einfach nicht möglich. Man kann normalerweise niemandem vertrauen, der keine Gabe besitzt. Deshalb müssen wir alle sehr vorsichtig sein und aufpassen, wem wir uns anvertrauen. Doch es gibt eine Möglichkeit wie man feststellen kann ob jemand zu uns gehört. Ich zum Beispiel kann nur die Gedanken von normalen Menschen ohne Gabe lesen. Also wenn ich die Gedanken einer Person nicht lesen kann, ist es ziemlich sicher, dass diese Person zu uns gehört. Mein Vater war auch ein animo lectorem aber er gestand es meiner Mutter erst als sie schon mit mir schwanger war. Kurz danach verliess er sie und noch bevor ich geboren wurde, war er spurlos verschwunden, da es eine zu grosse Verantwortung für ihn war. Oder wie meine Mutter sagen würde, er war ein übler Feigling.

"Wir werden in einer Minute am Bahnhof, in Amsterdam ankommen. Vielen Dank, dass sie mit der Deutschen Bahn gefahren sind", unterbrach die Ansage meine Gedanken.

Der Wind wehte durch meine Haare als ich aus dem Zug ausstieg. Ich schaute mich um und versuchte meine Grossmutter unter all den Menschen ausfindig zu machen. "Hallo Lizzie Schätzchen, hier bin ich!", ertönte eine Stimme hinter mir. Ich drehte mich um und schloss meine Grossmutter augenblicklich in meine Arme. "Ich bin Liz, Oma, einfach Liz" meinte ich lachend, "ich habe dich vermisst" "Ich dich auch mein Schatz aber wir müssen jetzt los", antwortete sie. Dann löste ich mich aus der festen Umarmung und wir machten uns auf den Weg.

Noch während wir mein Gepäck in den Flur abgestellten begrüsste mich Tommy indem er auf mich hochsprang. "Jaaa, dich habe ich auch vermisst", redete ich ihm zu während ich seinen Kopf streichelte. Er war ein braver Hund und machte zum Glück keine Probleme. Genau das Richtige für Oma. "Weisst du Liz, ich muss heute noch so viel erledigen", seufzte meine Grossmutter während sie den Flur entlang ins Wohnzimmer lief. "Ich muss noch die Einkäufe erledigen, das ganze Haus putzen und in die Bibliothek gehen, da ich noch ein Buch über die animo lectorem brauche", erklärte sie. "Ach kein Problem, ich werde dir helfen. Ich könnte doch an deiner Stelle zur Bibliothek fahren.", antwortete ich, ohne zu zögern. Meine Grossmutter schien verblüfft. "Das ist wirklich nicht nötig du bist doch gerade erst angekommen", entgegnete sie." "Aber ich will dir helfen", erwiderte ich trotzig. "Na gut. Dann sei aber bitte vorsichtig.", ermahnte sie mich.

Der angenehme Duft der Bücher schlug mir entgegen als ich die Tür der Bibliothek öffnete und eintrat. Zum Glück hatte Oma mir erlaubt herzukommen. Jedes Jahr, besuchte ich diesen Ort, und zwar nur aus einem bestimmten Grund. Ich war mir ziemlich sicher, dass sich hier das verborgene Buch befindet. Dieses Buch ist eines der magischen Bücher. Ich weiss nicht wie viele es gibt. Aber dieser Ort, er zog mich irgendwie an und ich könnte schwören, dass sich hier irgendwo ein solches Buch befindet. Ich suchte es schon seit Jahren, aber noch nicht mal eine Spur oder ansatzweise einen Hinweis habe ich entdeckt. Das spielt aber keine Rolle, ich muss jetzt erst mal das Buch für meine Grossmutter finden, ich habe es ihr versprochen. Und doch überwältigten mich die hohen Bucherschränke ein erneutes Mal. Ich konnte mich doch ruhig nach ein paar Büchern umsehen. Ich habe sowieso kaum was zu tun in meinen Ferien. Ich werde einfach bei meiner Grossmutter vor dem Kamin sitzen, mit ihr heisse Schokolade trinken, dabei viele Bücher lesen und ihr beim Stricken zusehen. Es dauerte doch noch eine ganze Weile bis ich endlich das gesuchte Buch fand. Das gelang mir erst nachdem ich schon einen ganzen Stapel an Fantasyromanen und Krimis ausgesucht und auf einen kleinen Nachttisch neben den Sessel getan habe, auf dem ich vorhin noch gemütlich gelesen habe. Genau in einer der obersten Regalen ergriff ein altes Buch mit einem braunen, matten Umschlag meine Aufmerksamkeit. Das musste es sein, es entsprach ziemlich genau der Beschreibung meiner Oma. Leider war es ein bisschen zu hoch und ich musste mich auf die Zehenspitzen stellen, um es ansatzweise irgendwie erreichen zu können. Ich streckte meine Hand weit nach vorne und kriegte knapp nur die Unterseite des Buches zu fassen. Dann versuchte ich das Buch mit meinen Fingerspitzen aus dem Bücherregal zu holen. Doch es klappte nicht ganz so gut, wie ich mir das vorgestellte hatte und plötzlich erschien eine grosse Hand und nahm das Buch heraus. Ich sank wieder auf meine Füsse und starrte auf den Boden. Langsam wendete ich meinen Blick nach oben und starrte direkt in zwei grosse, grüne Augen, die mich sofort in den Bann zogen.

Der Schatten an meiner SeiteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt