Kapitel 1 - Frische Luft

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Timos Sicht

"Wann hat diese neue Ärztin denn ihren ersten Arbeitstag?", fragte ich Nora gelassen.
Selbstverständlich konnte ich mich noch an ihren Namen erinnern und hätte hier auf ein Demonstrativpronomen verzichten können, aber nach außen wollte ich mir nicht anmerken lassen, dass sie mein Interesse geweckt und mich in gewisser Weise beeindruckt hatte. Als sie letzte Woche kurz in der Praxis war, um ihre Sachen vorbeizubringen und um sich ihren eigenen Raum einzurichten, hatte sie sich mir vorgestellt. Thelen hieß sie, Dr. Carolin Thelen um genau zu sein. Sie war jung, hatte eine zierliche Statur und braune, leicht lockige Haare, ein freches Grinsen und war zugegebenermaßen attraktiv. Das sollte im Berufsleben aber keinesfalls eine Rolle spielen, denn schließlich zählt das, was in dem Kopf drin ist und nicht das, was ihn äußerlich verziert. Wichtig waren mir deshalb auch ihre fachlichen Kompetenzen, schließlich hatte unsere Praxisgemeinschaft in Eisenach einen guten Ruf, den sie keinesfalls schädigen sollte. Doch nachdem ich einen kurzen Moment über den Fall einer Patientin gefachsimpelt hatte, musste ich zugeben, dass sie wirklich Ahnung hat, von dem was sie macht. Es gibt diese Leute, die frisch aus der Uni kommen und mit medizinischen Fachbegriffen um sich werfen, nur um zu zeigen, dass sie Medizin studiert haben. Aber Frau Dr. Thelen war nicht so, sie wusste mit den Begriffen umzugehen und sie an der passenden Stelle zu gebrauchen. Als ich während des Gesprächs ihre Augen musterte, die so hellbraun aussahen, als würde sich eine weite, geheimnisvolle Wüste in ihnen verbergen, erkannte ich ein Leuchten darin. Dieses Leuchten, das man nur hat, wenn man total begeistert von etwas ist und es mit voller Leidenschaft tut. Dieses Leuchten, wenn einen die Tätigkeit, die man ausübt, völlig erfüllt. Dieses Leuchten, wenn man einfach glücklich ist.
"Wenn sie mit diese Ärztin Frau Dr. Thelen meinen, schon morgen. Die hat es Ihnen wohl angetan, Timo?", riss Nora mich aus meinem Gedankengang. Ich konnte mir denken, dass so eine Bemerkung von ihr kommen würde. Sie ist zwar ein sehr offener und herzlicher Mensch, aber leider auch ungeheuer neugierig. "Nun reden Sie mal keinen Schwachsinn. Das war lediglich eine dienstliche Frage.", entgegnete ich ihr rasch, doch irgendwie klang meine Stimme ungewohnt zittrig. Ich fühlte mich ertappt. Hatte Nora etwas gemerkt? Hatte sie vielleicht sogar recht mit ihrem Verdacht? Nach dem ersten Treffen hatte ich einige Male an Frau Dr. Thelen gedacht, aber das musste doch nun nicht gleich heißen, dass sie es mir angetan hatte. Oder doch? So ein Unfug, natürlich nicht. Für eine Liaison oder gar eine Beziehung wäre neben meiner medizinischen Laufbahn gar kein Platz und keine Zeit. Ich räusperte mich und fragte, wer der nächste Patient sei, um nicht weiter zu dem Thema Stellung beziehen zu müssen. Mit den Unterlagen lief ich zurück in meinen Praxisraum und versuchte, mich auf den Fall von Herrn Halbeck zu fokussieren, der seit Wochen an unerträglichen Rückenschmerzen leidete, aber in meinem Kopf arbeiten es immer noch. "Morgen", sagte die kleine Stimme in meinem Kopf, "Morgen siehst du sie wieder". Vergeblich versuchte ich sie zu ignorieren und mich meiner Arbeit zu widmen, aber der Satz spielte sich immer wieder erneut in meinem Kopf ab.

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