Kapitel 6 - Herz über Kopf

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Caros Sicht

Wir stehen uns direkt gegenüber. Er streicht mit seiner Hand liebevoll über mein Haar, während er mich langsam zu sich heranzieht. Ich lege meine Hand in seinen Nacken und schaue in seine Augen, doch mein Blick verschwimmt. Langsam schließe ich die Augen. Unsere Lippen kommen sich immer näher und berühren sich fast. Plötzlich taucht hinter seinem Rücken eine schwarz gekleidete Person auf und reißt ihn von mir weg. Er will etwas sagen, doch ihm wird der Mund zugehalten. „Nein, Timo", schreie ich hinterher, als die Gestalt ihn immer weiter in ihren Bann zieht und schließlich mit ihm verschwindet.
Schweißgebadet wachte ich auf. Ich keuchte und brauchte einen Augenblick, um zu realisieren, dass es nur ein Traum war. Er hatte so schön angefangen, fast hätten Timo und ich uns geküsst. Bei dem bloßen Gedanken daran machte mein Herz einen großen Sprung. Musste er so brutal aufhören? Ich war nicht abergläubisch, aber ich hatte schon mal etwas von Traumdeutung gehört. Was dieser Traum wohl zu bedeuten hatte? Ich nahm mir vor, bei Gelegenheit danach zu recherchieren.

Da gerade eine akute Grippewelle ausgebrochen war, kam ich erst in meiner Mittagspause dazu, nach Timo zu sehen. Ich schaute in der Radiologie und der Teeküche nach, doch in beiden Räumen konnte ich ihn nicht auffinden.
„Wissen Sie, wo von Hatzfeld sich gerade aufhält?", erkundigte ich mich am Empfang bei Nora. „Er ist schon vor zwanzig Minuten gegangen, er hat irgendeinen Termin, meinte er vorhin.", antwortete sie freundlich. Einen Termin? Davon hatte er mir gar nichts erzählt. „Geben Sie es zu, da läuft etwas zwischen Ihnen beiden!", nutzte Nora die Gelegenheit und bohrte neugierig nach. Fieberhaft überlegte ich, was ich ihr nun sagen sollte. Wenn ich ihr die Wahrheit erzählen würde, würde es nachher die ganze Praxis und spätestens morgen halb Eisenach erfahren. Außerdem wusste ich ja selbst nicht mal, ob überhaupt und wenn ja was da zwischen ihm und mir lief. „Nein, da ist nichts, wir verstehen uns eben einfach gut. Und wenn da etwas wäre, wären sie natürlich die erste, die es erfahren würde.", log ich, um sie zu besänftigen und unterstrich meine Aussage mit einem Zwinkern, um sie glaubhafter zu gestalten. „Na dann bin ich ja beruhigt.", erwiderte Nora und lächelte zufrieden. „Schöne Mittagspause.", fügte sie noch hinzu. Ich bedankte mich und verließ die Praxis anschließend allein.
Eigentlich wollte ich Timo fragen, ob er Lust hatte, mit mir in dem japanischen Restaurant zu Mittag zu essen, von dem er letztens erzählt hatte, doch da er ja scheinbar einen Termin hatte, entschied ich mich dazu, diesen Besuch auf ein andermal zu verschieben. Auf meinem Weg dorthin, lief ich gegenüber von dem italienischen Restaurant entlang, in dem letztens unser Teamessen stattgefunden hatte. Durch die bodentiefen Fenster konnte man direkt in das Lokal hineinschauen.
Mein Blick fiel auf einen Tisch, an dem eine Frau saß. Sie hatte braune, kurze Haare und ein schmales Gesicht. Sie trug ein gelbes T-Shirt und dazu eine hellblaue Jeans. Ihren Hals zierte eine silberne Kette mit einem kleinen Herzanhänger. Gegenüber von ihr nahm nun ein Mann Platz, nachdem er sie mit einer innigen Umarmung und einem Kuss auf die Stirn begrüßt hatte. Ich musterte ihn von oben bis unten. Sein Outfit bestand aus einem hellblauen Sakko, der dazu abgestimmten Hose und einem weißen Hemd. Es kam mir irgendwie bekannt vor... Plötzlich schnappte ich nach Luft und hielt mich an der Hausfassade eines Ladens fest, um nicht zusätzlich noch umzukippen. Mein Herzschlag setzte einen Moment lang aus und ich zitterte am ganzen Körper. Der Mann, den ich gerade beobachtet hatte, war nicht irgendein Mann. Es war Timo. Mein Timo. Wie konnte er nur? Ich schaute noch einmal durch die Scheibe, um mich zu vergewissern, dass es sich wirklich um ihn handelte. Er war es, ganz sicher. In diesem Moment drehte er sich in meine Richtung und blickte mit seinen mir so vertrauten Augen direkt in meine Augen. Er schaute mich erschrocken an und ich funkelte böse zurück. Meine Beine rannten in die Richtung meiner Wohnung, ich bekam davon nichts mit, denn es passierte, ohne dass ich mich aktiv dazu entschieden hatte. Langsam spürte ich, wie sich meine Augen mit Tränen füllten und mein Blick langsam verschwamm. Gedankenverloren schaute ich mich um und stellte fest, dass ich meine Wohnung fast erreicht hatte. Schnell stürzte ich in die Wohnung, schmiss mich auf das Sofa und ließ meinen Tränen freien Lauf. Ich war wütend und enttäuscht von Timo. Hinter seinem „ach so wichtigen Termin" verbarg sich also ein Rendezvous mit einer anderen Frau. Ich verstand die Welt nicht mehr. Vor ein paar Tagen hatte er mir noch vorgetragen, wie sehr ihn das mit Lisa verletzt hatte und jetzt fügte er mir selbst diesen Schmerz zu? Hatte er denn nie dasselbe für mich empfunden, wie ich für ihn? Auf einmal erklärte sich mir auch, warum er in die Mittagspause verschwunden war, ohne mir Bescheid zu sagen. Und warum er mich letztens bei unserem gemeinsamen Spaziergang nicht geküsst hatte, obwohl ich es mir insgeheim sehnlichst gewünscht hatte. Der Grund war ganz einfach, er hatte eine Freundin.
Als ich mich wieder etwas beruhigt hatte, bemühte ich mich einigermaßen klar und logisch zu denken. Eigentlich wusste ich nicht mal, ob er etwas mit dieser Frau am Laufen hatte. Es gab kein eindeutiges Indiz dafür. Außerdem musste ich mir eingestehen, dass ich gar nicht das Recht dazu hatte, ihm für diese Aktion böse zu sein, da ich ja nicht mit ihm zusammen war. Ich seufzte. Ja, vielleicht hatte ich etwas übertrieben reagiert, aber trotzdem versetzte es mir immer noch einen heftigen Stich in der Herzgegend.
Ich warf einen Blick auf die Uhr und stellte erschrocken fest, dass meine Mittagspause bereits in wenigen Minuten enden würde. Bevor ich die Wohnung wieder verließ, versuchte ich mich ein bisschen frisch zu machen und die Spuren meiner Tränen zu überschminken, was mir sogar relativ gut gelang. Dann machte ich mich auf den Weg in die Praxis, in der Hoffnung, Timo dort nicht zu begegnen.

Endlich hatte ich Feierabend und packte meine Sachen zusammen. Dr. Kleist, Frau Ewald und Nora waren schon vor wenigen Minuten gegangen, von Timo wusste ich nichts. Glücklicherweise war ich ihm tatsächlich nicht über den Weg gelaufen. Ich drückte gerade die Türklinke meines Praxisraums hinunter, als ich von der anderen Seite der Tür ein zaghaftes Klopfen wahrnahm. Ruckartig riss ich die Tür auf und blickte direkt in Timos erstauntes Gesicht. Im ersten Moment hätte ich ihn am liebsten umarmt und ihm alles verziehen, doch bei seinem Anblick kam die ganze Wut von vorhin wieder in mir hoch und es brodelte nur so in mir. „Caro, es ist ist..." – „... nicht das wonach es aussieht?", vollendete ich seinen Satz aufgebracht. „Schon klar, wer es glaubt, wird selig. Schönen Feierabend und viel Vergnügen mit ihrer Freundin, Herr von Hatzfeld!" rief ich aufgesetzt und übertrieben freundlich, schob mich an ihm vorbei ins Treppenhaus und ließ ihn sprachlos zurück. Als er seine Sprache wiedergefunden hatte, rief er mir noch „Spielen Sie sich mal nicht so auf!" hinterher, was meine Wut nicht gerade milderte. Als ich draußen stand und einmal tief durchgeatmet hatte, war ich erschrocken über mein eigenes Verhalten. So extrem reagierte ich sonst nie. Hätte ich ihm nicht doch eine Chance geben sollen, sich zu erklären? Plötzlich fiel mir mein Traum der letzten Nacht wieder ein. Die schwarze Gestalt hatte unseren Kuss verhindert. Sollte diese Person etwa symbolisch für die Frau stehen, mit der Timo im Restaurant gegessen hatte?

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