Kapitel 4 - Vertrauensfrage

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*einige Wochen später*

Caros Sicht

Mein Telefon meldete sich mit einem melodischen Klingelton. Ich zog es aus meiner Hosentasche und warf einen Blick auf das Display. "Maja Reining" leuchtete dort in großen Buchstaben auf. Maja gehörte schon seit dem Gymnasium zu meinen engsten Freunden, wir verstanden uns blind. Schon damals waren wir zusammen durch dick und dünn gegangen. Außerdem verband mich mit ihr neben dem Interesse an der Medizin auch die Liebe zur Musik. Da auch sie Schubert mochte, hatte ich uns Karten für ein Konzert in der Eisenacher Stadthalle gekauft.
Ich nahm den Anruf an und meldete mich mit einem "Hi". "Hallo Caro", grüßte Maja zurück, ihre Stimme klang etwas gestresst. "Du, wegen dem Konzert heute Abend, es tut mir so leid, aber das wird nichts. Leon ist erkältet, ich muss auf ihn aufpassen." fuhr sie fort. "Ohje der Arme, sag ihm gute Besserung von mir!", antwortete ich und war kein bisschen böse auf sie. Warum auch? Leon war ihr 3-jähriger Sohn und schließlich ging Familie vor. Maja bedankte sich für die Genesungswünsche und fragte, was ich jetzt mit den Karten machen würde. Ich behauptete, dass mir schon etwas einfallen würde, damit sie kein schlechtes Gewissen bekam und verabschiedete mich.
Ich schaute zu den beiden Konzertkarten, die mit einem Magnet an meinem Kühlschrank befestigt waren und grübelte. Es wäre schade, die Karten verfallen zu lassen, aber um sie zu verkaufen, war es auch zu spät. Allein wollte ich eher ungern gehen und in meinem Freundeskreis gab es eigentlich niemanden, dem klassische Musik gefiel.
Plötzlich klatschte ich mir mit der flachen Hand gegen die Stirn. Natürlich kannte ich jemanden, der klassische Musik und vor allem Schubert genauso liebte wie ich: Timo! Warum war ich nicht gleich darauf gekommen? Bei dem Gedanken daran, einen Abend mit ihm zu verbringen, kribbelte es in meinem Bauch. Dieses Kribbeln hatte ich in letzter Zeit immer, wenn ich ihn sah. Sobald ich in seiner Nähe war, vergaß ich alles um mich herum, es schien, als würde es nur uns beide geben. Außerdem erwischte ich mich in letzter Zeit oft dabei, dass ich in Gedanken ständig bei ihm war und über ihn nachdachte, auch nach Feierabend. Ich mochte ihn wirklich sehr, trotz seiner manchmal egozentrischen Art. In den letzten Wochen hatte ich ihn besser kennengelernt und mir war mir aufgefallen, dass er sein arrogantes Verhalten wie ein Schutzschild benutzte. Sobald ihn etwas verunsicherte, verwendete er es, um alles daran abprallen zu lassen. Dabei hatte er das gar nicht möglich, da er auch ohne das Schild durch seinen Charakter überzeugen konnte. Wahrscheinlich machte er das nicht einmal absichtlich, sondern unbewusst. Trotzdem hatte ich das Gefühl, dass er irgendwas vor mir versteckte. Seine Stimmung, wenn wir etwas gemeinsam taten war so wechselhaft, mal war er richtig glücklich und manchmal war er nachdenklich. Manchmal konnten wir uns ewig unterhalten, manchmal war er wortkarg und ließ sich kaum auf ein Gespräch ein. Vielleicht würde sich irgendwann eine Möglichkeit ergeben, ihn nach dem Grund seines ambivalenten Verhaltens zu fragen.
Die Idee, mit ihm zum Konzert zu gehen, kam mir auf einmal komisch vor. Zwar waren wir in den letzten Wochen als Kollegen enger zusammengewachsen und hatten uns wirklich gut verstanden, aber vielleicht verhielt er sich auch manchmal so komisch, weil er eine Freundin oder überhaupt kein Interesse an mir hatte. Außerdem handelte er sehr rational und war auf seine Karriere fokussiert. Wahrscheinlich war in seinem Leben gar kein Platz für jemanden wie mich. Wäre es nicht komisch, ihn jetzt einfach zu fragen, ob er einen Abend mit mir verbringen wollte? - Nein, wäre es nicht, sonst wirst du es nie wissen und mehr als nein sagen, kann er sowieso nicht, überredete ich mich selbst und schnappte mir mein Handy. Ich schaltete es an, öffnete meine Kontaktliste und wählte "Timo v. Hatzfeld". Letzte Woche hatte er mir seine private Handynummer mit der Begründung "falls mal was ist" gegeben. Ob er damit medizinische oder private Probleme gemeint hatte, wusste ich nicht genau.
Bevor ich es mir nochmal anders überlegen konnte, tippte ich auf 'anrufen' und drückte mir das Handy ans Ohr. Etwas aufgeregt lauschte ich dem Tuten und wartete darauf, dass sich Timo am anderen Ende melden würde.

Timos Sicht

Ich war soeben aus der Dusche gestiegen, da hörte ich mein Handy klingeln. Schnell eilte ich uns Wohnzimmer und nahm den Anruf entgegen. "Hallo Timo, ich bin's Carolin. Stör ich gerade?", fragte mich die Stimme am anderen Ende. In meiner Eile hatte ich gar nicht darauf geachtet, wer überhaupt anrief. Dass es Caro war, ließ mein Herz etwas schneller klopfen. Letzte Woche hatte ich ihr meine private Handynummer gegeben, falls etwas ist. Ob ich damit medizinische oder private Probleme gemeint hatte, wusste ich selbst nicht genau. Vielleicht wollte ich sie beschützen, vor was auch immer. Was sie wohl wollte? "Nein, es passt gerade. Ist alles gut bei dir?", fragte ich vorsichtig, woraufhin ich ein Lachen hörte. Es war aber kein spöttisches Lachen, es war ein süßes, liebevolles Lachen. "Ja, es ist alles gut bei mir. Ich wollte nur fragen... Also sicherlich ist dir bekannt, dass heute ein Schubert-Konzert in der Stadthalle stattfindet und ich wollte ursprünglich mit einer Freundin hingehen, aber die hat mir jetzt abgesagt und da wollte ich fragen, ob du heute Abend schon etwas vorhast. Ansonsten hast du nämlich jetzt was vor!", fing sie zu erzählen an. Ein Konzert mit Caro? Mein Herz pochte noch schneller und es breitete sich ein wohliges, warmes Gefühl in mir aus. Als ich vor ein paar Tagen mitbekommen hatte, dass Schubert gespielt wird, hatte ich überlegt, sie einzuladen, aber bedauerlicherweise waren die Karten schon ausverkauft.
"Selbstverständlich begleite ich dich.", gab ich schnell zurück. "Darf ich dich heute Abend abholen?" Gespielt hochnäsig sagte sie: "Oh wie charmant, gerne. Ich erwarte dich in zwei Stunden vor meiner Haustür." Obwohl ich sie nicht sehen konnte, wusste ich, dass sie gerade grinste. "Dann bis später.", antwortete ich und legte auf.
Ich war voller Vorfreude auf den Abend, doch in mir kam ein mulmiges Gefühl auf. Ich erinnerte mich an meine gescheiterte Liaison mit Lisa Kleist, der Tochter von Dr. Kleist, die bis vor drei Jahren in der Praxis als Gynäkologin tätig war. Damals hatte ich eine Affäre mit ihr gehabt, obwohl sie verheiratet war. Dass ich ihre Ehe in gewisser Weise zerstört hatte, war das geringere Übel, schlimmer war für mich, dass ich ihr meine Gefühle offenbart hatte und dass das mit uns beiden nicht geklappt hatte. Meine Lehre aus der ganzen Sache war eigentlich gewesen, Arbeit und Privatsphäre nicht mehr zu vermischen. Es fiel mir schwer, anderen Leuten meine Emotionen zu zeigen und mich ihnen zu öffnen. Ob ich das bei Caro könnte? Egal wie sehr ich versuchte, es zu leugnen, tief in mir drin wusste ich, dass ich gerade dabei war, mich in sie zu verlieben. Sollte ich mich darauf einlassen? Eigentlich wusste ich ja nicht einmal sicher, ob sie überhaupt single war oder ob sie diese Gefühle erwidern würde.
Ich beschloss, zu warten, was die Zeit bringen würde und den Abend in erster Linie zu genießen.

Familie Dr. Kleist - Mehr als KollegenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt