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[ Point of view: Kenma Kozume ]


Ein wenig erleichtert atmete ich aus und ließ mich auf mein Bett fallen. Ich hatte den Schultag überstanden und hatte nun Wochenende. Doch darüber freute ich mich immer nur für einen kurzen Moment, denn am Montag würde der gleiche Mist wieder los gehen. Schule. Essen. Weinen. Schlafen. So war es jeden Tag. Ich war einsam. Sehr sogar. Wenn sich daran nichts änderte, würde sich auch an meinem restlichen Leben nichts ändern. Meine Eltern ließen mich mein Ding machen und beachteten mich nur, wenn ich von mir aus zu ihnen kam. Aber ich, der vor dem Sozialleben immer weggerannt war, traute mich kaum noch, mit ihnen zu sprechen. Zudem fehlte mir das Vertrauen in sie. Für mich war es, als wären sie bloß Mitbewohner, die mein Leben finanzierten. Das war nun schon seit Jahren so. Sie hielten mich für komisch, für krank oder gar gestört, sodass ich wusste, dass sie sich vor mir fürchteten. Ich lebte abgekapselt von allen anderen. Ich hatte nur einen einzigen Freund. Einen einzigen, und er war nicht einmal real. Er war in meinem Kopf und das, seit ich ein kleines Kind war. Er war der Grund, weshalb alles in meinem Leben schief lief und gleichzeitig der einzige, der mir dabei half, damit klar zu kommen.

Alles hatte begonnen, als ich noch ein kleines Kind war. Ich war sorglos, frei und wurde geliebt von jedem, der mich sah. Wie viele Kinder hatte auch ich einen imaginären Freund. Ich unterhielt mich mit ihm, spielte mit ihm und hatte ihn immer und überall dabei. Doch als ich etwa zehn Jahre alt war, predigten mir meine Eltern, dieses dumme Verhalten abzulegen. Ich sei kein Kind mehr und solle aufhören, mir Freunde bloß einzubilden und mir richtige suchen. Einen realen Menschen. Natürlich gab ich mein Bestes und versuchte über Jahre, mir dieses Verhalten abzugewöhnen. Doch als ich in die Mittelschule kam, verschlimmerte sich alles nur. Mein imaginärer Freund begann, mit mir zu sprechen - von sich aus. Ich hörte eine Stimme in meinem Kopf. Ich hatte mir sonst immer nur vorgestellt, wie jemand mit mir sprach, aber als ich plötzlich eine echte Stimme hörte, veränderte es mein gesamtes Leben. Ich konnte echte Stimmen nicht mehr von seiner Stimme unterscheiden, führte also aus Sicht anderer oft Selbstgespräche. Ich bekam nachts kein Auge mehr zu, wenn er mit mir sprach. Ständig war ich abwesend, weil er mit mir sprach. Meine Eltern glaubten, ich wäre geistesgestört und zwangen mich dazu, eine Therapie zu machen. Aber es brachte einfach nichts, die Stimme ließ mich nicht in Ruhe. Allerdings hatte das auch viele gute Dinge.

Bei Prüfungen in der Schule konnte ich so schummeln. Die Stimme in meinem Kopf war nämlich nicht dumm und sagte mir richtige Lösungen immer vor. Außerdem war die Person, die sich irgendwo hinter meiner Mauer versteckte, ziemlich selbstbewusst und munterte mich immer auf. Ich war also nie wirklich allein. Trotzdem war es unerträglich. Ich wusste gar nichts über die Person, die ihr Leben mit mir teilte. Ich wollte, dass diese Person verschwand und nie wieder zurück kehrte, damit ich endlich ein normales Leben führen konnte. Aber andererseits wollte ich diesen Jemand nicht verlieren. Er war der einzige Freund, den ich hatte. Den einzigen Menschen, bei dem ich mir sicher war, dass er mich und ich ihn gern hatte. Aber ich kannte weder seinen Namen, noch sein Aussehen, noch, was er überhaupt war. Das einzige, was ich wusste, war, wie seine Stimme klang, wie er charakterlich drauf war und dass er keine Gedanken lesen konnte. Doch er sah, was ich sah, als würde er durch meine Augen schauen. So kam es, dass ich häufig vor den Spiegel stand. Nicht, um mich selbst zu betrachten, sondern weil ich das Gefühl hatte, ihm so am nächsten zu sein, da ich ihn indirekt so ansehen konnte.

"Starr' doch nicht die ganze Zeit an die Decke, Kenma. Das ist langweilig. Ich bin schließlich an dich gebunden, also lass mich doch nicht vor Langeweile sterben!"
Ich schreckte hoch, als er mich ansprach. Ich war es gewohnt, dass er mich so plötzlich aus meinen Gedanken riss. Das hatte er manchmal sogar im Schlaf gemacht, um mich für die Schule zu wecken oder einfach, um mich zu Ärgern.
"Und? Wir sitzen im selben Boot.", flüsterte ich zurück, damit meine Eltern es nicht hörten.
"Aber du hast das Ruder in der Hand, nicht ich. Also mach was damit. Falls du es nicht bemerkt hast, ich kann nicht mehr und nicht weniger als Sehen und Sprechen."
"Ja, ich weiß. Aber ich habe eben keine Lust."
In solchen Momenten wünschte ich mir einfach, dass ich für eine Sekunde allein sein konnte. Wenn ich weinte, würde er es sehen. Er kannte alles an mir, meinen Körper, wie ich tickte, mein Umfeld. Dann sollte er nicht auch wissen, wie ich fühlte.

"Wieso nicht? Hast du Geheimnisse vor mir? Das wäre nämlich Schwachsinn. Wir werden bis zu deinem Lebensende eine Person sein, also sei ehrlich zu mir. Wem sollte ich denn auch davon erzählen? Du sollst doch nur nach draußen gehen, was ist denn daran so schlimm?"
"Sagt der, dessen Name ich nichteinmal kenne. Ich kenne dich nun seit etwa zehn Jahren und ich kann dich nicht einmal mit einem Namen ansprechen! Also befehl' mir nicht, ehrlich zu dir zu sein, wenn ich nichts als deine Stimme kenne.", antwortete ich und ich spürte, wie meine Augen feucht wurden. Wann würde es aufhören? Wann würde mein Leben normal werden? Wann würde dieser Junge aus meinem Kopf endlich verschwinden? Wie fühlte es sich an, wenn man allein war? Wie fühlte es sich an, keine Stimme zu hören? Wie fühlte es sich an, normal zu sein und nicht als geistesgestört abgestempelt zu werden?

"Warum kannst du nicht einfach gehen?", flüsterte ich und vergrub meinen Kopf in einem der Kissen auf meinem Bett.
"Ist meine Anwesenheit so schlimm für dich?"
"Ja und nein. Du bist, was mich und mein ganzes Leben zerstört und gleichzeitig das einzige, das ich liebe. Aber das verstehst du nicht. Hast du überhaupt so etwas wie Gefühle, wenn du nicht einmal einen Körper hast? Oder fühlst du, wie ich fühle, so, wie du meinen Körper benutzt?"

"Kenma... Ich habe mir das auch nicht ausgesucht, hier fest zu sitzen. Aber wenn du willst, kann ich gehen. Doch wenn ich das tue... Kann ich auch nie wieder zurück."
Ich überlegte kurz. Dass er eine Möglichkeit kannte, wie er für immer verschwinden konnte, war mir neu. Sonst hieß es immer, er wisse nicht, wie er verschwinden könne.
"Wieso? Ich will nicht, dass du gehst. Doch, schon, aber nicht für immer."
"Ich habe Angst, dass meine Anwesenheit für dich eher schmerzhaft als angenehm ist. Und ich will dir nicht weh tun. Aber ohne deine Erlaubnis kann ich auch nicht weg."
"Nein, bleib bei mir. Du bist immernoch alles, was ich habe und ich will dich nicht verlieren. So schmerzhaft es auch sein mag, ich will dich trotzdem nicht loslassen. Ich will ein normales Leben, aber keins ohne dich. Ich will, dass meine Eltern mich mit all meinen Fehlern lieben, also auch dich. Ich will leben. Aber nicht ohne dich. Du bist, was mich ausmacht. Ich... Könnte mich niemals von dir trennen."
Es herrschte eine schreckliche Stille, sowohl im Raum als auch in meinem Kopf. Ich hatte wohl zu viel gesagt.
"Mein... Mein Name ist... Kuroo. Kuroo Tetsurou.", sagte die Stimme in meinem Kopf kaum hörbar.

IMAGINARY. - [kuroken]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt